Schwierige Heimkehr nach dem Exil – Milan Kunderas Roman „Die Unwissenheit“

Von Bernd Berke

Prägnante Thesen stellt der tschechische Schriftsteller Milan Kundera, der seit 1975 in Paris lebt, seit jeher gern auf: Die (Alp)-Träume aller Menschen im Exil gleichen sich aufs Haar, behauptet er im Roman „Die Unwissenheit“.

Im Zentrum seiner streckenweise aufregenden Geschichte steht Irena, die nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten 1968 in Prag ihre Heimat verließ und just nach Paris übersiedelte. Nach der europäischen Wende des Jahres 1989 könnte sie den „Rausch der Großen Rückkehr“ (Kundera) auskosten und an ihr damals abgerissenes Leben anknüpfen. Kann sie es wirklich?

Das erste Wiedersehen mit ihren tschechischen Jugend-Freundinnen verläuft kläglich. Französischen Wein hat sie ihnen mitgebracht, doch die etwas gealterten Mädels trinken allesamt Bier, um ihre Prager Identität zu betonen. Ein Zeichen der Entfremdung.

Ähnlich ernüchternde Erfahrungen beim Versuch einer „Heimkehr“ macht Josef, der einst ins dänische Exil ging und nun ebenfalls Mühe hat, das Jetzt mit dem Damals zu verknüpfen. Dieser Riss in den beiden Lebensgeschichten kann offenbar nicht verheilen.

Diese große Leere um die Inseln des Gedächtnisses

Geradezu schattenhaft hat sich die einst so heiß gelebte und durchliebte Vergangenheit verflüchtigt. An diesen Befund knüpft Kundera lebensphilosophische Überlegungen. Zwar verankert er die Erzähl-Passagen in den historischen Zeitläuften, doch greift die Reflexion ins allgemein Menschliche aus, als hätten wir auf Erden letztlich alle eine Art Exil-Erfahrung gemacht: Woran erinnern wir uns überhaupt? Gibt es nicht eine große Leere rund um die kleinen Inseln des Gedächtnisses? Wie findet man in solchen Partikeln, in solcher „Unwissenheit“, sich selbst und den Zusammenhang wieder? Spannende Fragen, fürwahr.

Ohne erotische Beweisführung geht’s bei Kundera kaum: Wie im Experiment führt er Irena und Josef zusammen; zwei Menschen mit parallelen Biographien, die einander vielleicht die so arg vermisste Heimat werden könnten. Ihr Treffen beginnt verheißungsvoll: Schon ein paar tschechische Wörter wecken die lang entbehrte Geilheit. Sprache als Aphrodisiakum…

Prägeform jeglicher Nostalgie (sprich: Sehnsucht nach Rückkehr) ist für Kundera das Schicksal des Odysseus, der nach langer Irrfahrt zu Penelope heimkam. Doch hat er dort dauerhaft Halt gefunden?

Milan Kundera: „Die Unwissenheit“. Hanser-Verlag. 180 S.. 35 DM.

Das Buch wird heute (ZDF, 22.15 Uhr) im „Literarischen Quartett“ besprochen.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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