Eine Stimme für die Leidenden: Seit 50 Jahren leisten die „Ärzte ohne Grenzen“ weltweit medizinische Hilfe

2010 erschütterte ein katastrophales Erdbeben Haiti. Geschätzt 100.000 Menschen starben, 200.000 waren verletzt, rund eine Million verloren ihre Wohnungen. Die Ärzte ohne Grenzen halfen wie hier im Krankenhaus Carrefour. Die Patientin im Bild hatte zwei gebrochene Beine. Auf dem Foto: Doktor Adesca aus Haiti, der Chirurg Paul McMaster und die deutsche Krankenschwester Anja Wolz. (Foto: Julie Remy/Médecins Sans Frontières/MSF)

Die Älteren erinnern sich noch an die Bilder: Große Augen schauen aus abgemagerten Gesichtern. Ausgemergelte Körper strecken dürre Ärmchen aus. Auf dem Arm verzweifelter Mütter kauern kleine Kinder, die Skeletten gleichen.

Es war 1969, als die Fotos aus Biafra die Welt aufrüttelten. Die Provinz in Nigeria hatte sich für unabhängig erklärt. Ein Krieg und eine Hungerblockade waren die Folge. Biafra ist seither ein Symbol für Hunger und Leid.

Damals beschlossen Ärztinnen und Ärzte, die mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Einsatz waren, nicht länger zu der humanitären Katastrophe zu schweigen. Zwei Jahre später, am 22. Dezember 1971, gründete eine Gruppe von 12 französischen Ärzten und Journalisten eine Organisation, die Menschen in Not helfen sollte und nannte sie „Médecins Sans Frontières“ – Ärzte ohne Grenzen. Aus der Initiative entstand eine Bewegung, die heute ein weltweites Netzwerk bildet. In diesem Verbund leisten rund 41.000 Menschen in mehr als 70 Ländern medizinische Nothilfe. 25 Mitgliedsverbände bilden fünf „operationale Zentren“, die Projektentscheidungen treffen, qualifiziertes Personal entsenden und die Finanzierung organisieren. Die 1993 gegründete deutsche Sektion gehört zum Zentrum Amsterdam.

„Wir wissen, dass Schweigen töten kann“

Die Gründungsversammlung der Médecins Sans Frontières in Paris 1971. Beteiligt waren Dr. Marcel Delcourt, Dr. Max Recamier, Dr. Gerard Pigeon, Dr. Bernard Kouchner, Raymond Borel, Dr. Jean Cabrol, Vladan Radoman, Dr. Jean-Michel Wild, Dr. Pascal Greletty-Bosviel, Dr. Jacques Beres, Gerard Illiouz, Phillippe Bernier, Dr. Xavier Emmanuelli. (Foto: D.R./MSF)

Die Organisation hat sich verpflichtet, unparteiisch und unabhängig zu helfen. „Die Hilfe orientiert sich allein an den Bedürfnissen der Notleidenden“, heißt es in ihren Leitsätzen. „Ärzte ohne Grenzen“ helfen Menschen ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, politischen und religiösen Überzeugungen sowie ihres Geschlechts. Damit stehen sie oft zwischen den Fronten. Doch neutral zu handeln heißt für die „Ärzte ohne Grenzen“ nicht, stillschweigend zu helfen. Zur humanitären und medizinischen Hilfe tritt die sogenannte Témoignage (französisch für ‚Zeugnis ablegen‘).

Sie gehört zu den Satzungsaufgaben: „Wir sehen uns selbst in der Pflicht, das Bewusstsein für Notlagen zu schärfen. Wenn wir also konkret miterleben, wie Menschen extrem leiden, wenn ihnen der Zugang zu lebensrettender medizinischer Versorgung verwehrt oder systematisch behindert wird oder wir Zeugen von Gewaltakten gegen Individuen oder Bevölkerungsgruppen, von Missstände oder Menschenrechtsverletzungen werden, machen wir dies, wenn möglich, öffentlich.“ So beschreiben die „Ärzte ohne Grenzen“ ihre Rolle als Anwalt und Sprachrohr derer, die keine Stimme bekommen. „Wir sind nicht sicher, dass Reden Leben rettet. Wir wissen aber, dass Schweigen töten kann“, heißt es in der Dankesrede für den Friedensnobelpreis, mit dem die Vereinigung 1999 ausgezeichnet wurde.

Herausforderungen für die humanitäre Hilfe

Ein historisches Bild aus dem Krieg mit der Sowjetunion aus Afghanistan. (Foto: MSF)

Einige Stationen aus der Geschichte: Beim Erdbeben in Nicaragua 1972 leisteten die „Ärzte ohne Grenzen“ schnelle medizinische Soforthilfe. In Honduras richteten sie nach einem Hurrikan das erste langfristig angelegte medizinische Hilfsprojekt ein. In großen Konflikten wie den Kriegen im Libanon und in Afghanistan halfen Ärzte oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens. So überquerten nach 1979 kleine Teams die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan. Mit Maultieren versuchten sie, abgelegene Bergregionen zu erreichen und der Zivilbevölkerung zu helfen. In Thailand unterstützten sie Anfang der achtziger Jahre Kambodschaner, die vor dem Pol-Pot-Regime geflüchtet waren. Hunger in Äthiopien, Bürgerkrieg in Liberia, Krieg in Bosnien, Genozid in Ruanda, der verheerende Tsunami 2004 und das Erdbeben in Haiti 2010, schließlich Aids-Programme in Asien und Afrika und die Covid19-Pandemie des Jahres 2020 waren riesige Herausforderungen für die humanitäre Hilfe.

Schwester Séraphine unterzieht sich dem ersten Schritt der Dekontamination nach ihrer Runde durch die Hochrisikozone des Hospitals in Mangina in der Demokratischen Republik Kongo während eines Ebola-Ausbruchs. (Foto: Carl Theunis/MSF)

Das Preisgeld des Friedensnobelpreises nutzten die „Ärzte ohne Grenzen“, um Menschen den Zugang zu medizinischer Behandlung zu erleichtern. Ihre „Medikamentenkampagne“ tritt dafür ein, Arzneien, Tests und Impfungen erreichbar, bezahlbar, für alle geeignet und an den Orten, an denen die Patienten leben, verfügbar zu machen. Seit mehr als 30 Jahren setzt sich die Organisation auch für die Behandlung von Menschen mit seltenen tropischen Krankheiten ein. „Hunderttausende wurden behandelt, die sonst nicht überlebt hätten“, heißt es in einem zum Jubiläum erschienenen geschichtlichen Überblick.

Außerdem suchen die Ärzte nach einer Antwort auf den tödlichen Ebola-Virus. Dazu gehören Methoden, einen Ausbruch zu begrenzen und die Übertragung zu vermeiden. Migrationsströme, Flüchtlingsrettung auf See, aber auch die Folgen von Naturkatastrophen, verursacht durch Klimawandel, Ressourcenknappheit und Naturzerstörung durch den Menschen sind neue Herausforderungen für die Organisation, die sich aus Spenden finanziert – 2020 waren das weltweit 1,9 Milliarden Euro von mehr als sieben Millionen Spendern – und die in Deutschland im letzten Jahr mehr als 770.000 Spender mit 204,5 Millionen Euro unterstützten.

Weitere Informationen im Internet unter www.aerzte-ohne-grenzen.de

Ein Überblick über die Geschichte mit vielen Fotos unter 50years.msf.org/home/de

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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