„Alles, was von außen kommt, ist schädlich…“ – Andreas Maier setzt seinen Romanzyklus mit „Die Familie“ fort

Das Zimmer. Das Haus. Die Straße. Der Ort. Der Kreis. Die Universität. So hießen die bisherigen sechs kurzen Romane, in denen der 1967 geborene Andreas Maier Facetten (s)eines recht normalen, aber in den Einzelheiten besonderen Lebens aufgegriffen hat. Ein insgesamt groß angelegtes, jedoch kleinteiliges und kurzweiliges Projekt.

Die Fortsetzung trägt nun den Titel „Die Familie“ und es will scheinen, als zögen sich die Kreise, die sich vordem zusehends erweitert haben, allmählich wieder in sich zusammen. Wird einst der letzte Teil „Das Ich“ heißen? Oder gar: „Das Nichts“?

Gemach. Das sind ebenso wildwüchsige wie müßige Spekulationen. Schauen wir lieber, was sich diesmal im Rückblick aufs Tagtägliche begibt:

Da geht’s anfangs um die immergleichen Absurditäten beim schulischen Schwimmunterricht, sodann (noch viel weiter zurück liegend) um kindheitliche Ur-Erlebnisse: die erste Grube, das erste Zelt, das erste Feuer in der Nacht. Aus solcher Frühzeit schälen sich – zunächst unbegriffen, dann mit wachsender Verwunderung registriert – einige familiäre Riten, Legenden und Lebenslügen heraus.

Vor allem der ältere Bruder des Erzählers benimmt sich renitent – mit aufgestützten Ellenbogen am Familientisch; damals ein unerhörtes Fehlverhalten. Hernach treibt sich der Knabe regelmäßig im „Kinderplaneten“ herum, einem Zentrum mit entschiedenem Linksdrall. Wie peinlich, dass die überaus besorgten Eltern ständig dort aufkreuzen. Die engagierten Sozialarbeiter sind nach ihrer Meinung „funktionale Miterzieher gegen die Familie“. Welch‘ sinnige Ausdrucksweise, die sich über Jahrzehnte zum abrufbaren Automatismus verfestigt.

Wohlweisliche Zerstörung einer alten Mühle

Nach und nach zeigen sich Risse, Auflösungen und Distanzen in der Familie, Streit mit einem (von seiner Frau aufgehetzten?) Onkel allemal inbegriffen. Unheile Normalität, normales Unheil. Das weithin Übliche. Der Erzählende erinnert sich, wie er von der familiären Wagenburg-Mentalität infiziert worden ist: „Ich hatte als Kind das Bild: Immer, wenn jemand eine Person von außen kennenlernt, beginnt die Entfremdung (…) Alles, was von außen kommt, ist schädlich und gefährlich.“

Und dann dieser denkwürdige Vorfall: Auf dem weitläufigen Grundbesitz der Familie vernichtet ein Bagger eine denkmalgeschützte Mühle. Offenbar auf Bestellung. Offenbar, damit die Eltern den kostspieligen Auflagen der Denkmalpflege entgehen. Es folgt ein jahrelanges Gerichtsverfahren, das nicht nur in der Wetterau, sondern in ganz Hessen argwöhnisch beobachtet wird. Dem brachialen Bagger-Abriss entspricht auf familiärer Ebene ein fortwährender, eher heimlicher und unheimlicher Zerfall, der im Resultat freilich ähnlich zerstörerisch ist.

Die Kinder suchen das Weite, sobald sie können. Besagter Bruder geht nach Berlin, um nicht nur den Eltern, sondern auch der Bundeswehr zu entkommen. Die Schwester des Erzählers (der später im nahen Frankfurt studiert) wandert in die USA aus. Und kommt wieder zurück. Und wandert wieder aus. Und so weiter, jedes Mal mehr Nachwuchs im Gefolge, den ihre Eltern mit versorgen sollen. Alle paar Jahre steht sie mit erneut gewachsener Kinderschar einfach so vor der Tür, wortlos fordernd. Eine alptraumhafte Groteske.

War denn alles nur verlogen?

Nur nebenher erwähnt, doch nicht minder beunruhigend: Die Mutter des Erzählers, die nun immer so hartleibig und starr wirkt, muss einst ganz anders ins Leben aufgebrochen sein – als ausgesprochen unkonventionelle, glühende Streiterin für Freiheit und Gerechtigkeit. Diese Glut muss nach und nach erloschen vollends sein. Wie traurig.

Doch es kommt noch weitaus schlimmer. An die ersten kleinen und sodann stetig anschwellenden Zweifel am Zusammenhalt der Familie knüpfen sich schließlich bohrende, tödlich ernste Fragen. Verdankt die in gewissen Dingen so verdächtig schweigsame Familie ihren Grund- und Immobilienbesitz der Enteignung des jüdischen Bürgers Theodor Seligmann in der NS-Zeit? Sämtliche Anzeichen sprechen dafür.

Damit erscheint nicht nur dieses Buch, sondern es erscheint die gesamte Romanreihe verfinstert. Der Verfasser selbst zeiht sich rückblickend der Harmlosigkeit, der „Entschuldungsliteratur“. Er habe aus seiner Familie „ein geradezu metaphysisches Konstrukt gemacht“. War denn letzten Endes alles verlogen? Und wie wird, wie kann es nun weitergehen mit dem Zyklus?

Andreas Maier: „Die Familie“. Roman. Suhrkamp Verlag. 166 Seiten. 20 €.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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