Monatsarchive: Dezember 1990

Schwankender Koloß des Unrechts – „Der zerbrochene Krug“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Draußen Schnee, drinnen auch. Wer am Mittwoch abend zur Premiere von Kleists „Der zerbrochene Krug“ in Essens GrilloBau kam, hatte dieses realtheatralische Doppelerlebnis. Leise rieselte es im Bühnenhintergrund, vor kahler Landschaft mit Weidenbäumen.

Das Spiel hebt an auf einer kreisrunden, schmutzig-weißen Platte, um die sich ein Graben zieht. Das erinnert an eine Raubtierinsel im Zoo. Von oben kommt gleichmäßiges, die Szene analytisch ausleuchtendes Licht aus gleichfalls kreisrunder Öffnung. Hier also wird der Dorfrichter Adam entlarvt.

Das Stück zählt natürlich zu den „All time greats“, es ist unverwüstlich, wenn man den Dorfrichter richtig besetzen kann. Dafür bietet Regisseur Hansgünther Heyme in Essen Peter Kollek auf. Damit ist die Aufführung bereits weitgehend gerettet.

Kollek gibt den Adam als … Weiterlesen

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Dachau und die schönen Künste

Von Bernd Berke

Es gibt Orte, die tragen untilgbar tiefe Spuren der Geschichte. Es gibt Leute, die neudeutsch „Image-Pfleger“ heißen und kein Einsehen haben. Zu ihnen gehört wohl auch Dr. Lorenz Reitmeier, Oberbürgermeister der bayerischen Stadt Dachau.

Von Haus aus Jurist, hat sich Reitmeier aufs Feld der Kunst begeben und nun mit Schreiben „an d i e Kulturjournalisten und Kunstkritiker in Deutschland“ – eine Adresse, die nach Kampagne klingt – ein Buch geschickt. Es enthält für 198 DM satte 1700 Farbabbildungen auf teurem Hochglanzpapjer und heißt „Dachau, der berühmte Malerort“. Uns liegt eine „Sonderaufläge für die Stadt Dachau“ vor (die bestimmt ganz ohne jeden Steuergroschen entstanden ist, oder?). Der Süddeutsche Verlag erklärt sich verschämt nur für die „technische Gesamtherstellung“ zuständig,… Weiterlesen

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Nationalgefühl kann im „Kühlschrank der Geschichte“ auftauen: „Extreme Mittellage“ – Peter Schneider zur deutschen Vereinigung

Von Bernd Berke

Die deutsche Vereinigung hat die politische „Linke“ hierzulande höchlich verwirrt, ja vielfach sprachlos gemacht. Einer der ersten, die versucht haben, die Sprache wiederzufinden, ist Peter Schneider, der schon anno 1973 mit seiner Erzählung „Lenz“ linke Selbstgewißheiten empfindlich ankratzte.

Jetzt, bei seiner „Reise durch das deutsche Nationalgefühl“, befindet sich Schneider, nimmt man den Buchtitel beim Wort, in „extremer Mittellage“, was man auch mit Ratlosigkeit übersetzen könnte. Den Tag der Maueröffnung, den 9. November 1989, erlebte der Berliner nur am TV-Bildschirm – aus 10 000 Kilometern Entfernung, in New Hampshire/USA. Auch dieses flaue Gefühl, eine historische Stunde verpaßt zu haben, hat ihn offenbar an den Schreibtisch getrieben.

Seine Hauptthesen: Die westdeutsche Linke habe sich sozusagen gehörig an die Brust … Weiterlesen

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Entdeckungen in der neueren Literatur Frankreichs – mit Büchern des Manholt-Verlages

Von Bernd Berke

Es gibt Verlage, die beeindrucken nicht nur durch einzelne Bücher, sondern durch anhaltend hohes Programmniveau. Die Rede ist hier von einem vergleichsweise kleinen Haus in Bremen: Der Manholt-Verlag hat sich auf neuere französische spezialisiert – auf moderne Klassiker, besonders aber auf hierzulande noch zu entdeckende Gegenwartsautoren.

„Träume von Räumen“ von Georges Perec (1936-1982) ist eine spannende „Spurensuche“ in unser aller Alltagsleben, die – welch seltene Legierung – formale Modernität und aphoristisch geschärften Witz verbindet. Es ist fast wie bei der Erschaffung der Welt: Vom leeren Raum ausgehend, schreitet die Untersuchung durch immer größere Einheiten fort – über Bett, Schlafzimmer, Wohnung, Haus, Straße, Viertel, Stadt und Land bis zum unendlichen All. Allein was Perec über unsere Formen des … Weiterlesen

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Suzanne Vega: Eine gewisse Melancholie

Von Bernd Berke

Münster. „Don’t be shy! Express yourself!“ – Seid nicht schüchtern, geht aus euch heraus! Die New Yorker Rocksängerin Suzanne Vega wollte ihr Publikum verbal anstacheln. Doch wie, bitteschön, hätten die Leute ihre Musikbegeisterung in dieser kreuzbraven Halle Münsterland mit ihrer aufgereihten Bestuhlung Ausdruck verleihen sollen?

Außerdem ist Suzanne Vega selbst keine Frau von extrovertierter Art. Wenn sie beim Singen mal die Knie bewegt, ist das schon viel. Nur manchmal glaubt man bei ihr eine kleine, fast diebische Freude an der eigenen Musik zu verspüren. Ihre Intensität liegt woanders: in einer leicht neurotisch angehauchten Innerlichkeit. Angetan mit einer Kluft zwischen Uniform und Schulmädchenkleid (weiße Söckchen) steht sie auf der Bühne. Blaß, zerbrechlich, aber irgendwie standhaft und tapfer.

Suzanne … Weiterlesen

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Ein Schönling schmilzt dahin – Bodo Kirchhoffs filmreifer Roman „Infanta“

Von Bernd Berke

„Mindanao, Cebu City, Frankfurt und Rom – Januar 1985-Januar 1990″. Diese „Signatur“ von Bodo Kirchhoff am Schluß seines Romans läßt auf mehrerlei schließen. Der Autor ist reisefreudig, und er hat sich beim Schreiben Zeit gelassen. Er hat sich nicht dem Zwang unterworfen, jedes Jahr mit einem neuen Werk „auf dem Markt“ zu sein.

Ein häufiger Vorwurf an unsere Schriftsteller lautet ja, daß sie vor dem bis dato weitgehend behüteten, nicht eben zum rauschhaften Schaffen antreibenden Leben hierzulande in ferne Weiten flüchten – in Träume, erklügelte Künstlichkeiten oder fremde Länder.

Solchen Anwürfen entgeht Kirchhoff virtuos, indem er sie unterschwellig zum Thema macht. Da läßt er einen – sonst im römischen Luxus-Ambiente wohnenden – Deutschen namens Kurt Lukas, charakterlich … Weiterlesen

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Der tiefste Ernst ist ein Verwandter des Lachens – Frankfurter Schirn-Kunsthalle zeigt erste große Retrospektive seit dem Tod von Jean Dubuffet

Von Bernd Berke

Frankfurt. Jean Dubuffet (1901—1985) gilt heute meistenteils als Hauptvertreter der sogenannten „art brut“ (etwa: rohe Kunst), einer Richtung, die auf alle großen Traditionen (auch die der Abstraktion) pfeift und sich z. B. an bildnerische Hervorbringungen von Geisteskranken anlehnt. In der Kunsthalle Schirn zu Frankfur/Main ist jetzt, bei der ersten großen Retrospektive nach Dubuffets Tod, festzustellen, wie wenig mit solch einer Schubladen-Zuordnung gesagt ist – bestenfalls ein Körnchen der Wahrheit.

Richtig ist, daß Dubuffet (von seinen frühen und erzkonventionellen Anfängen in den 20er Jahren abgesehen) die Tradition aggressiv von sich wies. Bei seinen Angriffen auf die intellektuell hochgezüchtete Moderne hat er Beifall von falscher Seite riskiert. Dubuffet hat seinen ureigenen Weg gesucht. Dieser Weg hatte freilich viele Gabelungen. … Weiterlesen

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Wenn jede Kunst es mit der anderen treibt – Wuppertaler Pop-Institut zeigt in Hamburg Ausstellung über Andy Warhol und „Velvet Underground“

Von Bernd Berke

Hamburg/Wuppertal. Unter der Decke schweben Cassetten-Recorder mit Kopfhörern, beim Aufschlagen eines Buches entfaltet sich eine dreidimensionale Suppendose aus Papier. Fotos zeigen ekstatisch verzerrte Gesichter im Stroboskop-Gewitter, Platten und Plakate animieren zu Rockmusik-Räuschen, es laufen bizarre Filme und Videos. Wohin sind wir denn da geraten? In die ehrwürdige Hamburger Kunsthalle.

Die große Andy Warhol-Ausstellung vor Jahresfrist in Köln war ein Publikumsrenner. In der Euphorie fiel aber kaum auf, daß ein wichtiger Werkaspekt des berühmten Pop-Künstlers total vernachlässigt wurde: seine intensive Beziehung zur Rockszene. Warhol wollte gar, auch weil er auf diesem Feld erhöhte Öffentlichkeit sowie Geschäfte witterte, mit seinen Künstlerkollegen Claes Oldenburg und Jasper Johns selbst eine Rockband gründen, die freilich ein Flop wurde. Seine Zusammenarbeit mit der … Weiterlesen

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