documenta 8: Der Hunger nach Bildern scheint vorerst gestillt

Von Bernd Berke

Kassel. Das weltweit diskutierte „Museum der 100 Tage“, die 8. Kasseler documenta, öffnet heute die Pforten. Während die documenta 1977 vornehmlich der Selbstreflexion gewidmet gewesen war und „Kunst über Kunst“ in den Vordergrund gestellt hatte, legte die Weltkunstschau 1982 den Akzent auf expressive Stile (Stichwort „Neue Wilde“) und folgte einem Konzept der „Kunst über Künstler“.

So sieht es jedenfalls der künstlerische Leiter der neuen documenta, Manfred Schneckenburger (48). Mit dem von ihm verantworteten Fünfjahres-Resümee, so Schneckenburger, melden sich die Künstler in der Wirklichkeit zurück. Kein neuer Stil habe sich als Schwerpunkt aufgedrängt, sondern eine neue Haltung: Die Kunst beziehe sich wieder verstärkt auf die „historische und soziale Dimension“. Statt der Nabelschau auf Formstrukturen zu frönen, wage man wieder öfter Metaphern und Bilder, die auf unsere Wirklichkeit verweisen.

Schon ein erster Rundgang zeigt, daß mit derlei Schlagworten nicht die Rückkehr zur Politkunst oder zu simplen Vermittlungsformen gemeint sein kann. Das gesellschaftliche Moment der allermeisten Arbeiten kommt, falls überhaupt, oft erst über vertrackte ästhetische Bezüge oder Denkumwege zum Vorschein. Die .„Brücke zum Publikum“, die man laut Schneckenburger diesmal schlage, erweist sich oft genug als Zickzack-Strecke, manchmal gar als Holzweg.

Die absolute Ausnahme bildet ein Künstler wie Hans Haacke, der im „Fridericianum“ eine Installation errichtet hat, die man zunächst für einen schnöden Reklamepavillon hält, die sich aber sehr schnell als direkte Kritik am Gewinnstreben deutscher Großkonzerne in Südafrika erweist. Relativ problemlos ist der Zugang auch noch zu den Bildern eines Leon Golub, der Gewalt und Unterdrückung ohne Umschweife thematisiert.

Vielfach dominieren negative Utopien

Schwieriger wird es schon bei einigen Hauptwerken dieser documenta. lan Hamilton Finlays vier Guillotinen, die auf einer Blickachse in Richtung eines Schlosses liegen, eine Qualität von Schönheit und Schrecken darstellen und durch Inschriften auf den französischen Revolutionsberserker Robespierre Bezug nehmen, verlangen schon genaueres und längeres Hinsehen, sind interpretationsbedürftig. Ähnliches gilt für die Arbeit des Chilenen Alfred Jaar, der mit „1+1+1″ der Frage nachgeht, wie Kunst die politische Wirklichkeit darstellen, ja überhaupt erst auf die Füße stellen kann. Vielfach dominieren freilich negative Utopien, katastrophische Szenen, die weniger zum Nachdenken denn zum Horror gereichen.

Eins zeigt sich als Tendenz recht deutlich: Der vielbeschworene „Hunger nach Bildem“ ist einstweilen gestillt. Die documenta 8 hat aus der Not eine Tugend gemacht und die Flucht in die dritte Dimension ergriffen: Architektur (Modelle von „idealen Museumsbauten“), Design sowie Skulpturen und Objekte im städtischen Raum spielen eine Rolle wie nie zuvor. Zusammenfassend könnte man sie als selbstbewußte Interventionen der Kunst ins Reich der Wirklichkeit ansehen. Einfacher ausgedrückt: Es geht um Kunst, die sich nützlich machen will und manchmal auch Unterhaltungswerte nicht scheut.

Insgesamt wird man jedoch den Eindruck nicht leicht los, daß dieselben Arbeiten, unter einem anderen Konzept-Blickwinkel als dem Schneckenburgers betrachtet, sich auch ganz anders deuten ließen. Aber auch das gehört ja zum Spannenden an der Kunst, daß sie jeder Interpretation immer um mindestens einen Schritt voraus ist.

Übrigens: Dem verstorbenen Joseph Beuys, ohne den man sich eine documenta noch immer nicht vorstellen kann, ist ein eigener, zentraler Raum im gräßlich restaurierten Fridericianum gewidmet. Erstmals ist dort seine Endzeit-Vision „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ authentisch zu sehen.

„documenta 8″. Kassel (u. a. Fridericianum, Orangerie, Innenstadt, Auepark, Karlswiese). 12. Juni bis 20. September, täglich 10 bis 20 Uhr, Freitag/Samstag 10 bis 22 Uhr-Tageskarte 10 DM, Dauerkarte 80 DM. Katalog (3 Bände) 90 DM, Kurzführer 12 DM. Führung durch die gesamte Ausstellung 6 DM pro Person. Führungsdienst/Information: Tel. 0561/77 3104

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 16 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Kunst & Museen abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.