Menschen kreisen nur um sich: Edith Wharton beschreibt den „Dämmerschlaf“ der 20er Jahre

Was ist das für ein Leben in der Upperclass der Vereinigten Staaten in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auch Roaring Twenties genannt? Der Oberschicht fehlte es an nichts, materiell gesehen. Gute Jobs, gutes Geld, bester Lebensstandard.

Je mehr man aber als Leser von Pauline Manford erfährt, die in Edith Whartons Roman „Dämmerschlaf“ die Schlüsselrolle einnimmt, desto klarer wird der Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Alltag ist im Aktionismus erstarrt, ein Termin jagt den nächsten. Ob das Engagement hier und Einsatz dort überhaupt zueinander passen: Wer will das schon wissen?

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Da fällt es dann auch nicht ins Gewicht, wenn Pauline ihre Rede verwechselt. Was eigentlich diejenigen vernehmen sollten, die für Geburtenkontrolle ins Feld ziehen, hörten die Befürworterinnen der uneingeschränkten Mutterschaft. Selbst, wenn es irgendwem aufgefallen sein sollte, wird er sich schnell in den Zustand geflüchtet haben, der mit Buchtitel bereits benannt ist.

Man kann vortrefflich darüber streiten, ob dieser Roman überhaupt eine Handlung hat. Man trifft sich hier, feiert dort, plant dieses Fest und jenen Charity-Termin, plaudert und parliert, wie es gerade chic ist. Wenn überhaupt von einem Handlungsstrang gesprochen werden kann, dann lässt sich nur ausmachen, dass Pauline die Krise ihres Sohnes Jim mit seiner Ehefrau Lita managen möchte. Die Schwiegertochter möchte zum Film, fühlt sich gelangweilt und will ihr altes Leben hinter sich lassen. Doch Scheidung? Das darf in damaliger Zeit nicht sein. Dabei lebt Pauline selbst auch in zweiter Ehe, hat es aber irgendwie geschafft, dass ihre Kreise sie nicht ausgegrenzt haben. So aktiv und vielseitig sie ist, dürfte es aber auch schwer fallen, sie an den Rand drängen zu wollen.

So scheint der Roman dahin zu plätschern, wobei allerdings die feine Ironie sich in der Vielzahl an kleinen Szenen zeigt. Wenn sich Pauline und ihr Mann Dexter am Tag nach einer Hausparty mühen, der gähnend langweiligen Feier doch noch ihre schönen Seiten abzugewinnen, tritt die Brüchigkeit des Systems deutlich hervor.

Womit vor allem die Frauen den lieben langen Tag verbringen (oder verschwenden), das ist schon bemerkenswert. Gesichtsmassagen in verschiedenen Varianten oder Besuche bei selbsternannten Wunderheilern sind nur zwei Beispiele dafür, dass Lebenssinn ganz unterschiedlich interpretiert werden kann. Ob ein solcher Sinn überhaupt existiert, diese Fragen lässt Paulines Familie nicht zu, allerdings mit einer Ausnahme. Tochter Nona ist so eine Art Gegenentwurf, hinterfragt sie doch gern auch mal das Treiben rund um sie herum.

Die Autorin, die von 1862 bis 1937 lebte, entstammte selbst einer wohlhabenden Familie, deren Ursprünge sich bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen lassen, und verspürte schon in jungen Jahren eine große Distanz zu ihren Angehörigen. Die Diskrepanz zur Gesellschaft wurde ihr deutlich, als sie sich während des Ersten Weltkriegs für Flüchtlinge und Vertriebene einsetzte. Dass die US-Gesellschaft überhaupt keine Notiz nahm vom Leid dieser Menschen, war für Edith Wharton ein echtes Ärgernis. Vor einem solchen Hintergrund wird die Intention für dieses Buch umso deutlicher: Die Autorin beschreibt eine Gesellschaft, in der die Menschen letztlich nur noch um sich selbst kreisen, wenngleich sie nach Außen den Eindruck erwecken, als würden sie pausenlos für ihre Mitmenschen unterwegs sein. Aldous Huxley hat einmal behauptet, in Whartons Roman sei seine „Schöne Neue Welt“ schon längst existent.

Das Buch von Edith Wharton erschien 1927 mit dem Originaltitel „Twilight Sleep“. In Deutschland kam es unter „Die oberen Zehntausend“ heraus. In der jetzigen Ausgabe wurde der ursprüngliche Titel ins Deutsche übersetzt, wobei der Begriff Dämmerschlaf zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein medizinisches Verfahren meinte, das Geburtsschmerzen unterdrücken sollte. Da Wharton mit ihrem Buch auch unterschwellig die Sexualmoral der damaligen Zeit im Visier hatte, ist es nicht auszuschließen, dass sie bei der Wahl des Buchtitels auch an die Medizinmethode gedacht hat.

„Dämmerschlaf“ war übrigens nicht das erfolgreichste Buch der Autorin. Das schrieb sie mit „Zeit der Unschuld“, 1920 erschienen.

Edith Wharton: „Dämmerschlaf“. Roman. Manesse Verlag. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andrea Ott. 320 Seiten, 24,95 Euro.

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