Unter Schafen: Die Ruhrtriennale 2014 beginnt mit „De Materie“ von Louis Andriessen

Schafe unterm Zeppelin: Szene aus der Deutschen Erstaufführung von Louis Andriessens "De Materie" (Copyright: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Schafe unter dem Zeppelin (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Sie muss wirklich gute Augen haben, die Dame in der Reihe hinter uns. Während wir noch rätseln, was für seltsame Gestalten weit hinten aus dem Dunkel auftauchen, aus der Tiefe der 160 Meter langen Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord, beginnt sie zu kichern, den Kopf zu schütteln und sich halblaut zu mokieren. Dann entfleucht der wogenden Masse ein verräterischer Laut. „Möööh!“ Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, treibt als Regisseur der Deutschen Erstaufführung von Louis Andriessens Oper „De Materie“ tatsächlich eine Schafherde über die Bühne.

Eine gefühlte Ewigkeit, in Wahrheit sind es etwa 20 Minuten, sehen wir 100 Schafen aus dem Raum Düsseldorf dabei zu, wie sie durch die monumentale Weite des Raums trappeln. Sie halten sich dicht aneinander, scheinen nach Futter zu suchen, bewegen sich im sanften Schein eines ferngesteuerten Modell-Zeppelins, der über ihren Köpfen schwebt. Allmählich rücken sie vor bis zum Orchestergraben, wo das renommierte „Ensemble Modern“ unter der Leitung von Peter Rundel zwei immergleiche Akkorde wiederholt wie ein narkotisierendes Mantra. Ist dies ein Traum? Oder ein Albtraum? Ob die Schafe in diesem Moment wohl sehr viel weniger verstehen als wir?

Nichts weniger als das Verhältnis von Geist und Materie wollte der 1939 in Utrecht geborene Komponist Louis Andriessen in seinem vierteiligen, fast zwei Stunden langen Werk thematisieren. Angesichts des theoretischen Sujets bleiben Sänger, Chor und Statisten bei ihm Schattenfiguren, die keine Identifikation erlauben. Sie sind vielmehr Text-Vehikel, Transporteure eines Librettos, das Andriessen aus höchst unterschiedlichen historischen Fragmenten geschaffen hat. Verhandelt werden die niederländische Unabhängigkeitserklärung von 1581, eine Anleitung zum Schiffsbau von 1690, ein philosophisch-naturwissenschaftlicher Essay von 1651, die religiös-erotische Vision einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert, ein kunsthistorisches Manifest, eine private Notiz zu Piet Mondrian, ein Gedicht über den Tod, eine Tagebuchaufzeichnung und eine öffentliche Rede von Marie Curie.

Einem historischen Foto nachgestellt ist diese Szene mit Madame Curie (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Einem historischen Foto nachgestellt ist diese Szene mit Madame Curie (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Das ist zeitweilig ungefähr so aufregend wie gesungener Geometrieunterricht. Wir lernen ungewohntes Schiffsvokabular wie „Kraweelplanke“ und „Balkenweger“, fragen uns aber doch, ob der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Teilen letztlich mehr ist als eine stramme Behauptung. Denn eine Geschichte verweigert uns das Werk, das seit seiner Uraufführung 1989 in Amsterdam nicht wieder in Szene gesetzt wurde. Zweifel wachsen auch, weil sich der Komponist im Programmheft selbst widerspricht. Während er im Dialog mit Roland Diry vom „Ensemble Modern“ energisch behauptet, das Stück sei „sehr offensichtlich eine Oper“, zitiert ihn sein Landsmann Alcedo Coenen einige Seiten weiter mit den Worten, das Stück habe „mit einer Oper wirklich nichts zu tun.“

Louis Andriessen, Schüler von Kees van Baren und Luciano Berio, schreibt eine Musik, die mit seinen einst verehrten Idolen wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez nicht viel gemein hat. „De Materie“ ist stark von Akkorden und Wiederholungen geprägt, dabei aber auch faszinierend vielgestaltig. Sie kann statisch klingen, ermüdend um sich selbst kreisen, aber auch hypnotisierende Klangflächen schaffen. Die Sängerin Evgeniya Sotnikova führt das lange Sopransolo im zweiten Teil in Höhen von ätherischer Schönheit. Wie putzige Stummfilm-Figuren tanzen Gauthier Dedieu und Niklas Taffner zu Boogie-Woogie-Zitaten, die ein unterhaltsames Element in die ansonsten oft recht zähe Materie bringen. Robin Tritschler sinniert mit kraftvollem Tenor über die Teile, aus denen alle Körper zusammengesetzt sind. Dem wie so oft exzellenten „ChorWerk Ruhr“ gelingt das Kunststück, die verschraubten Texte trotz komplexer Rhythmik und Harmonik auf den Punkt zu bringen (Einstudierung: Klaas Stok).

Surreale Schönheit: Evgeniya Sotnikova intoniert die Vision einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Surreale Schönheit: Evgeniya Sotnikova intoniert die Vision einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Neben dem exzellenten „Ensemble Modern“, das für Andriessens Musik seine ganze Kompetenz in die Waagschale wirft, ist es das vielköpfige Technik-Team, das an diesem Abend den stärksten Beifall erhält (Leitung: Harald Frings). Das kann kaum verwundern, denn Heiner Goebbels hat seiner Vorliebe für weitgehend menschenleere, von Apparaten und Maschinen belebte Bühnenräume freien Lauf gelassen. Er illustriert Andriessens musikalischen Essay mit traumgleichen, surrealen Bildern, deren Magie sich tief ins Gedächtnis brennt (Bühne und Licht: Klaus Grünberg). Lustvoll spielt er mit der monumentalen Größe des Raumes, lässt uns im geheimnisvollen Dunkel kosmische Dimensionen erahnen.

Wie eine Vision tauchen blau schimmernde Zelte auf, geordnet in einer Reihe, die sich im Nichts zu verlieren scheint. Sanft und kühl wie der Mond leuchten die durch den Raum schwebenden Zeppeline. Sternen aus fremden Galaxien gleich flammen die Lichter auf, die zur mittelalterlichen Vision der Nonne an einem künstlichen Himmel erstrahlen. Im Mondrian-Akt treiben monumentale Doppel- und Tripelpendel ihr Spiel. Bunte Quadrate formieren sich in fröhlichem Tanz zu immer neuen Mustern.

Ob die Produktion wirklich zum Nachdenken über die Dialektik von Materie und Spiritualität anregt oder vielmehr dazu einlädt, sich von Klängen und Bildern berauschen zu lassen, lässt sich nicht beantworten. Zweifelsohne aber werden es die mysteriös-gewaltigen Bilder sein, die sich gegen das Vergessen stemmen. Die Schafherde unter dem Zeppelin wird bleiben. Sie und mancher verstohlene Blick auf die Uhr.

(Informationen und Aufführungstermine: www.ruhrtriennale.de/de/programm/produktionen/louis-andriessen-de-materie)

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