Erzwungener Liebestod – Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Bielefeld

Ein roter Schirm, ein blau gefleckter Horizont: Bilder der Hoffnung in Sabine Hartmannshenns Inszenierung von "Romeo und Julia auf dem Dorfe" in Bielefeld. Die Bühne schuf Kaspar Zwimpfer. Foto: Bettina Stöß

Ein roter Schirm, ein blau gefleckter Horizont: Bilder der Hoffnung in Sabine Hartmannshenns Inszenierung von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Bielefeld. Die Bühne schuf Kaspar Zwimpfer. Foto: Bettina Stöß

Von Jean-Jacques Rousseau stammt die Erkenntnis, Freiheit bestehe nicht darin, dass der Mensch tun könne, was er wolle. Sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will. In Frederick Delius‘ Oper „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ sollen die beiden liebenden jungen Leute ständig tun, was sie nicht wollen: Die Väter verbieten ihnen den Umgang miteinander. Der „schwarze Geiger“ will ihnen ein Leben als verantwortungslose Vagabunden schmackhaft machen. Das „Volk“ versucht, sie in die Konventionen seiner rüden Belustigungen einzupassen.

Sali und Vreni, die Shakespeare-Figuren in einem engen, provinziellen Umfeld, sehen am Ende als Ausweg nur den gemeinsamen Gang in den Tod. In ihrer Bielefelder Inszenierung der Opernrarität zeigt Sabine Hartmannshenn ungeschönt, was das bedeutet: Vreni schneidet sich tief in den Unterarm, dann reicht sie das blutige Messer dem jungen Sali.

Frederick Delius‘ „A Village Romeo and Juliet“, in einem langen, mühevollen Prozess entstanden und 1907 in Berlin uraufgeführt, wird nicht ohne Grund in Bielefeld gezeigt: Die Familie Delius stammt aus der westfälischen Stadt, auch wenn Frederick – eigentlich Fritz – als Sohn deutscher Einwanderer in Bradford in Yorkshire geboren wurde. Noch heute leben Nachfahren in Bielefeld, gibt es dort ein Familienarchiv.

So verbindet das Theater stets willkommene lokale Bezüge mit einem aktuellen Trend: Delius‘ schwer einzuordnendes Werk – es steht zwischen Wagner-Nachfolge und -Ablehnung, musikalischem Impressionismus französischer Prägung und Anklängen an seinen Freund Edvard Grieg – hat in den letzten Jahren neues Interesse gefunden, unter anderem in wichtigen Produktionen in Karlsruhe und Frankfurt. Seine Oper „Koanga“, seit Jahrzehnten ungehört, wird im Herbst 2015 beim irischen Wexford Opera Festival zur Debatte gestellt. Und vor einer Generation, als Bielefeld mit John Dew ein Zentrum kreativer Opern-Archäologie gewesen ist, war dort schon einmal „Fenimore und Gerda“ zu sehen (1987/88).

Kaspar Zwimpfer baut für Sabine Hartmannshenn eine Bühne, deren reduktive Ästhetik den beiden deutlichsten Polen des Stücks entgegenkommt: auf der einen Seite die Anklänge an die drastische Sozialkritik der Vorlage, Gottfried Kellers „Die Leute von Seldwyla“; auf der anderen die Tendenz zu einer psychologisch-symbolistischen Studie, die dem Scheitern der jungen Menschen einen Zug ins Existenzialistische, wenn nicht sogar ins tristanhaft Unbedingte gibt. Verschiebbare Wände schaffen düstere Klausen, trennen oder vereinen Räume, stehen blau gefleckt und lichtdurchlässig für weite Himmels- oder Seelensphären.

Zentrale Figur für die Deutung: der "schwarze Geiger" (Frank Dolphin Wong). Foto: Bettina Stöß

Zentrale Figur für die Deutung: der „schwarze Geiger“ (Frank Dolphin Wong). Foto: Bettina Stöß

Zentrale Figur für die Deutung ist der „schwarze Geiger“: psychologisch ein Katalysator der seelischen Entwicklung der beiden Kinder, gesellschaftlich ein „Bastard“, ein Außenseiter, dem sein Recht vorenthalten wird. Aber er hat auch Züge einer unbestimmt-dunklen Gestalt, eines teuflischen Musik-Magiers. Unerklärt bleibt, warum das junge Paar sein verlockendes Angebot ausschlägt, in den entfernten „Bergen“ das freie Leben gesellschaftlich ungebundener Aussteiger zu leben. Mag sein, dass Vreni (in Bielefeld ganz norddeutsch: „Vrenchen“) und Sali von den tradierten Konventionen, wie ein gelingendes Leben auszusehen habe, nicht loskommen. Könnte aber auch sein, dass sie in einer hedonistischen Utopie eines ungebundenen Daseins die Erfüllung menschlichen Lebensglücks nicht erkennen können. Um bei Rousseau zu bleiben: Freiheit ist, nicht alles tun, sondern das Ungewollte lassen zu können.

Hartmannshenn changiert zwischen diesen Polen, ohne sich letztlich zu entscheiden – das ist die Schwäche ihrer handwerklich wieder bemerkenswert elaborierten Inszenierung. Die Regisseurin hat in Köln, Düsseldorf („The Rake’s Progress“, „Lohengrin“) und zuletzt in Bielefeld mit Verdis „Giovanna d’Arco“ unter Beweis gestellt, wie sie konzeptionelles Denken in schlüssige Bühnenaktion umsetzen kann. Da gibt es zu Beginn des zweiten der sechs Teile ein wundervoll poetisches Bild: Vreni sitzt allein auf einem einsamen Stuhl im zweigeteilten Raum; jenseits der trennenden Wand steht der Vollmond hinter einem Gazeschleier. In solchen Momenten braucht es keine Aktion, um Atmosphäre und Aussage in eins zu bringen.

Sarah Kuffner und Daniel Patacky als Vreni und Sali in Frederick Delius' "Romeo und Julia auf dem Dorfe" in Bielefeld. Foto: Bettina Stöß

Sarah Kuffner und Daniel Patacky als Vreni und Sali in Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Bielefeld. Foto: Bettina Stöß

Auf der anderen Seite stehen dann Szenen wie im fünften Bild: Das „Markttreiben“ auf nahezu leerer Bühne bedient sich einer vordergründigen Bewegungs- und Körpersprache, Schaukeln und Jahrmarktsstand kommen über ihren Requisiten-Charakter nicht hinaus. Auch die roten Schirme, die Vreni und Sali vom schwarzen Geiger bekommen, wirken zu gewollt zeichenhaft, um einen tragfähigen Symbolwert zu erreichen. Die Kostüme von Susana Mendoza, hinterwäldlerisch zeitgenössisch wie aus einem Versandhauskatalog mit Fünfziger-Jahre-Geschmack, lassen eher an die Sozialstudie Kellers denken – und unterstützen so den Schwebezustand der Deutung.

Auch die Musik will sich nicht zu verfeinertem Raffinement verständigen: Alexander Kalajdzic kann Ausrutscher in Einsätzen und ein paar verquere Intonationskickser nicht verhindern. Was nicht weiter bedeutsam wäre, hätte er zum Beispiel auf subtile Dynamik geachtet. Aber die Bielefelder Philharmoniker spielen so handfest auf, als wüssten sie nicht um die Akustik ihres Hauses.

Sicher kennt Delius‘ Musik den sämigen Strom einer harmonisch reich unterfütterten Melodie; sicher kennt sie die breite lyrische Emphase. Aber sie braucht auch das elastische Zurücknehmen, das wirkungsvolle Detail, ein Mikroklima für das Wachsen nuancierter Klänge. Das vermisst man in Bielefeld.

Nuancen sind eher Sache der Sänger: Sarah Kuffner und Daniel Patacky sind ein sorgsam gestaltendes Paar, innig und leidenschaftlich, mit hochfliegender Emphase und trüb getönter Depression. Beide Stimmen haben freilich ihre Probleme: Der Tenor bildet die Töne fest und nicht selten grell; die Sopranistin sollte den Kern des Klangs eher mit dem Atem als mit dem Einsatz von Vibrato suchen.

Moon Soo Park und Yoshiaki Kimura als Marti und Manz müssen sich um Subtilitäten nicht scheren: Sie singen die beiden recht realistisch gefassten Väter mit brachialem Vollton. Einen vorteilhaften Eindruck hinterlässt Frank Dolphin Wong: Als schwarzer Geiger changiert er stimmlich zwischen den entschiedenen Tönen des Übervaters und dem geschmeidigen Locken des Verführers. Den Eindruck, ein bloßer Herumtreiber zu sein, kann er mit seinem differenzierten Singen dennoch nicht ganz vermeiden.

Die Nebenrollen sind sorgfältig besetzt und gestaltet – von der Pfefferkuchenfrau Melanie Kreuters bis zum Schießbudenmann Roman Astakhovs. Nienke Otten und Sarah Davidovic gefallen in ihrem kurzen Auftritt: Sali und Vreni als Heranwachsende. Bei allen Einwänden ist dem Theater Bielefeld hoch anzurechnen, dieses bedeutende Werk der Nach-Wagner-Ära erneut zur Diskussion zu stellen.

Schön, dass es nicht dabei bleibt: Mit Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ steht ab 28. Februar eine weitere Rarität auf dem Spielplan, die sieben Jahre nach dem „Tannhäuser“-Skandal in Paris 1861 (Wagners Oper ist ab 31. Mai zu sehen) mit Shakespeare und Anklängen an die Grand Opéra versuchte, eine Alternative zum bestimmenden Einfluss des Deutschen zu entwickeln. Es bleibt spannend in Bielefeld!

Weitere Infos hier

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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