Musik aus den Nachkriegsjahren: Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Sir Simon Rattle ist seit der Saison 2017/18 Music Director des London Symphonic Orchestra (Foto: Pascal Amos Rest)

Tiefer Zweifel und innere Heimatlosigkeit klingen aus mancher Musik, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand. Richard Strauss, verstrickt mit dem nationalsozialistischen Regime, komponierte seine „Metamorphosen“ 1945 in der Schweiz. Seine Heimatstadt München, sein geliebtes Wien, sein verehrtes Dresden lagen da bereits in Schutt und Asche.

Im Sommer 1947 las Leonard Bernstein ein Gedicht von Wystan Hugh Auden, das seiner 2. Sinfonie Inhalt und Titel gab: „The Age of Anxiety“, das Zeitalter der Angst, nahm Gestalt an.

Im Konzerthaus Dortmund spielt das London Symphony Orchestra unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle zudem Auszüge aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“. Brennende, aber unerlöste Sehnsucht, umrahmt vom grüblerischen Pessimismus der beiden Nachkriegswerke: So rundet sich ein intelligent durchdachtes Programm, das der inflationären Flut weihnachtlicher Barock-Konzerte einen wuchtigen Akzent entgegen setzt.

Wehmut ohne jede Süße

Im Stehen spielen die Geiger und Bratscher der Londoner Symphoniker die Strauss-Metamorphosen. Sir Simon dirigiert inmitten der 23 Solo-Streicher, ohne Podest und ohne Taktstock, formt die Musik mit bloßen Händen. Mit den ersten, weltabgewandten Takten der Celli beginnt die Musik zu strömen, transparent und fragil bis zur Brüchigkeit. Uns tönt eine morbide Textur entgegen, eine Wehmut ohne jede Süße, denn die verweigern Simon Rattle und seine Musiker mit bitterer Konsequenz. Aus ist es mit dem Arabella-Schmelz, vorbei jede Rosenkavaliers-Süße. Das alles hat diese Musik weit hinter sich gelassen.

Sir Simon Rattle bei seinem Auftritt im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Dann leuchtet der Tristan-Akkord auf, schwebt rätselhaft und unerlöst im Raum, jede Bindung an die Tonalität abweisend. Das Orchester, jetzt in großer Besetzung, erfüllt Wagners mystische Nachtmusik mit dunklem, sattem Streicherklang, den die Holzbläser zuweilen durch ein silbernes Leuchten krönen.

Nicht alle Musiker scheinen sofort mitzukommen, als Simon Rattle dieses Drängen und Schmachten mit furios angezogenem Tempo zum nachgerade manischen Höhepunkt treibt. Aber wen kümmert das angesichts dieser schier endlosen Brandung, die schließlich in eine harfenumrauschte Verklärungsmusik mündet, in den Liebestod der Isolde.

Glückssuche in Krisenzeiten

Indes hört die Menschheit auch in Krisenzeiten nicht auf, nach ein wenig Glück und Glaubensgewissheit zu suchen. Davon erzählt Leonard Bernstein in seiner 2. Sinfonie, die sich an diesem Abend als unterschätztes, viel zu selten gespieltes Meisterwerk entpuppt.

Krystian Zimerman spielte im Konzerthaus Dortmund den Klavierpart in Leonard Bernsteins 2. Sinfonie mit dem Titel „The Age of Anxiety“ (Foto: Felix Broede/DG)

Punktgenau und intensiv zeichnet das London Symphony Orchestra ein Psychogramm von vier Personen, die sich während des Krieges in einer New Yorker Bar kennen lernen und versuchen, den miserablen Zeiten zu trotzen. Mäuschenstill wird es im Saal, wenn die Musik in die Abgründe der Seele steigt, wenn wenige Töne genügen für einen großen Trauergesang. Aber es gibt auch kraftvolle Ausbrüche mit Pauken und Blech und Tamtam, eine faszinierende Palette von Klangfarben, die von den Musikern virtuos bedient wird.

Krystian Zimerman, der an diesem Abend den Klavierpart übernimmt, will erkennbar nicht als Solist glänzen. Der polnische Pianist, der das Werk bereits 1986 unter der Leitung von Leonard Bernstein spielte, hat die Partitur ohne Zweifel vollkommen verinnerlicht. Bestechend die tiefe Wahrhaftigkeit seines Ausdrucks, Ehrfurcht gebietend die Grandezza, mit der er Akkorde aufrauschen lässt, hinreißend die fingerfertige Nonchalance, mit dem er durch das jazzige Finale tänzelt. Zimerman, der Purist, der Perfektionist, der Klangfarbenzauberer, sucht den Dialog mit dem Orchester, stellt sich ganz in den Dienst der Sache. Mit einer Zugabe lächelnd an Leonard Bernstein erinnernd, verneigt er sich als Großer vor einem Künstler, der unvergessen bleiben wird.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).

Informationen zum Programm des Konzerthauses Dortmund unter https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/

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