Kein dürres Gedenkdatum: Was mir der Élysée-Vertrag und die deutsch-französische Freundschaft persönlich bedeuten

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Was sehe ich denn da im Gedenktagekalender? Der deutsch-französische (oder auch französisch-deutsche) Élysée-Vertrag jährt sich heute zum 55. Mal? Für mich ist das kein abstraktes Datum aus ferner Vergangenheit. Es ist mit persönlicher Bedeutung angefüllt. Lasst mich kurz davon erzählen.

Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichneten das historische Vertragswerk am 22. Januar 1963. Damit wurde die fürchterliche „Erbfeindschaft“ zwischen beiden Ländern, die in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts so viele Menschenleben kostete, höchst offiziell und feierlich beendet. Und es blieb gottlob keine bloße Symbolik.

Tatsächlich herrscht seit 1945 und erst recht seit 1963 dauerhafter Frieden zwischen diesen beiden Völkern, etwaige Konflikte klärt man zeitnah bei regelmäßigen Konsultationen. Dabei spielt es bisher keine Rolle, welche Regierung jeweils am Ruder ist. Und die europäische Einigung wäre ohne Frankreich und Deutschland nicht so immens vorangeschritten – mancherlei Mängel inbegriffen, von denen wir aber jetzt einmal absehen wollen.

Dortmund verkündete schon 1960 Partnerschaft mit Amiens

Im Gefolge des Vertrages gab es nicht nur zahlreiche Jugendbegegnungen zwischen beiden Ländern, es entstanden auch etliche Städtepartnerschaften. Dortmund war ganz früh mit von der Partie, schon vor dem Élysée-Vertrag. Man knüpfte Verbindungen zu Amiens und proklamierte die Partnerschaft bereits 1960. Just aus Amiens kamen die Kinder, mit denen fortan viele Dortmunder Kinder- und Jugendgruppen einige Wochen der Sommerferien verbrachten. Ich durfte mehrmals dabei sein. Schon kurz nach der Anfangsphase. Welch ein Glück des Beginnens.

Urlaub mit meinen Eltern habe ich so gut wie gar nicht erlebt, höchstens mal ein paar Tage an der holländischen Küste oder in der Eifel. An Fliegen oder gar Fernreisen war noch nicht zu denken, ein eigenes Auto hatten wir damals auch nicht. Statt dessen ging’s – erstmals mit elf Jahren – mit dem Bus auf deutsch-französische Gruppenreisen, zunächst dreimal nach Mollseifen im Sauerland, später nach Rieseberg/Königslutter (Niedersachsen), einmal auch nach Sanary in Süfrankreich und nach Marina di Massa in Italien.

Wie Pfadfinder am Lagerfeuer - die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Nach Pfadfinder-Art am Lagerfeuer: die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Herrliches Gemeinschaftserlebnis

Sauerland klingt für heutige Begriffe vielleicht langweilig, war aber als Gemeinschaftserlebnis wunderbar und teilweise abenteuerlich nach Pfadfinder-Art. Allein die Schnitzeljagden, Budenbauten und Indianerspiele in den Wäldern… Ich will nicht behaupten, dass man davon bis heute zehrt. Aber unvergesslich sind so manche Augenblicke doch. Und es will mir scheinen, als sei dies noch wirkliche Kindheit gewesen.

Leider hatten wir anfangs in der Schule noch keinen Französisch-Unterricht, so dass die Kommunikation überwiegend nonverbal erfolgen musste. Doch wie gut das unter uns Kindern ging! Für Zweifelsfälle waren da ja auch noch ein sprachkundiger „Moniteur“ bzw. eine „Monitrice“ (GruppenleiterIn). Wenn wir zusammen durch die Wälder streiften, hitzige Wettspiele austrugen, miteinander malten oder einander Lieder aus dem jeweiligen Land vorsangen, spielte Sprache eh nur eine Nebenrolle.

Die Jungs aus Frankreich waren galanter

Mit der Zeit bemerkten wir auch Unterschiede, die teilweise den Klischees entsprachen: Gleichaltrige französische Jungs waren einfach „früher dran“ und entschieden frecher, was den galanten Umgang mit Mädchen anbelangte; die französischen Mädchen wiederum hatten – wie soll man sagen – vielfach mehr Geheimnis und schon früh etwas Apartes, Anmutiges. Oder war’s eher das lockende Unbekannte, das einen verwirrte? Allein, dass sie mit so wohlklingenden Lauten sprachen, deren Wortsinn sich einem nicht erschloss. Jedenfalls glaube ich, dass aus der Zeit meine – und nicht nur meine – spätere Vorliebe für französische Filme (Truffaut, Rohmer, Rivette etc.) herrührte. Ja, in jenen Ferienzeiten erfuhren wir vielleicht einen Hauch von Nouvelle Vague…

Ich erinnere mich an jenen Tag, als abends „Teppichtanz“ gespielt wurde, in dessen Verlauf man sich unschuldige Küsschen geben durfte. Doch schon das brachte uns ca. Dreizehnjährige einigermaßen in (bestenfalls halbwegs begriffene) Wallung. Sagte nicht eine Monitrice nach Ende des Spiels zu ihrem Kollegen, das habe uns wohl zu sehr aufgeregt? Was sie wohl gemeint hat? Wenn Adenauer und de Gaulle geahnt hätten, was sie uns da beschert haben… Adenauer hätte vielleicht mit rheinischem Zungenschlag einen seiner Lieblingssätze gesagt: „Meine Herren, die Situation ist da…“

„Hitler – c’est fini…“

Und der Krieg? War anfangs noch keine 20 Jahre her, spielte aber unter uns Kindern praktisch keine Rolle mehr. Alles schmeckte so herrlich nach Neuanfang. Einmal sagte ein kleiner Franzose mit plötzlichem Ernst zu uns: „Hitler (sprich: „Itlère“) – c’est passé, c’est fini!“ Hatten sie ihm zu Hause wohlmeinend aufgetragen, das zu sagen? Egal. Jedenfalls haben wir ihn verstanden und waren wirklich erleichtert.

Diese bedeutsamen kleinen Momente. So unscheinbar, doch noch nach Jahrzehnten präsent.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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