Soziale Miniaturen (1): An der Kasse

Die Frau, wahrscheinlich in den Fünfzigern, ist vielleicht
ein wenig verhuscht, aber überhaupt nicht verwahrlost. Sie hält noch etwas auf
sich, wenn auch nicht mehr so viel wie ehedem. Sie ist auf unscheinbare,
gläsern verletzliche Art adrett. Es ist, als stünde sie auf papierenen Füßen.
Sie lebt allein, so viel scheint gewiss.

Sie steht an der Kasse. Bevor sie an die Reihe kommt,
sortiert sie ihren bescheidenen Einkauf auf dem Laufband sehr sorgfältig um und
um. Geradezu liebevoll. Unsinnig liebevoll.

Der Kassierer tippt die Beträge ein und drückt die
Additionstaste. 19 Euro und… Mit Mühe kratzt sie knapp 16 Euro zusammen. Ihr
hilfloser Blick.

Dieser Kassierer, ein massiver Mensch, schlägt vor: „Was
brauchen Sie denn nicht so dringend? Dann lassen Sie das weg.“ Schüchtern rückt
sie zwei Joghurt-Becher beiseite. Er, gnadenlos pragmatisch: „Das bringt
nichts. Das ist nur ein Euro zehn.“ Ihr hilfloser Blick.

Es liegt schmerzlich zutage. Sie kann nicht einfach
per Karte zahlen. Was da liegt, ist das, was sie jetzt aufbieten kann.

Von hinten aus der Schlange meldet sich ein Gutmeinender:
„Wieviel fehlt denn?“ Keinerlei Reaktion. Noch einmal, ebenso vergebens:
„Wieviel fehlt?“ Achselzucken. Was soll man machen?

Sie verzichtet nochmals auf zwei, drei Posten, so dass ihre
Habe nun gerade reicht.

Ihr Lächeln ist fein, doch hört man nicht ein Klirren?

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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8 Antworten zu Soziale Miniaturen (1): An der Kasse

  1. Sam Jones sagt:

    Eine schöne Geschichte. Wenn auch traurig.
    Ich weiß auch nicht wie ich in dieser Situation gehandelt hätte, als „Mittelloser“. Geld dazu gegeben habe ich schon öfters. Aber es schwang immer etwas mit, was diese Dame verhindert hat. Stolz ist manchmal eine harte und traurige Sache.

  2. Michaela sagt:

    Eine Mutter mit ihrer etwa siebenjährigen Tochter im Supermarkt. Ein ums andere Mal kreischt das Kind: „Mama, darf ich …? Mama, brauchen wir …?“ Dabei wird es immer drängelnder und durchdringender, während die Mutter völlig ungerührt durch die Gänge schlendert, das Handy ohne Unterbrechung am Ohr, und kein einziges Wort mit ihrer Tochter wechselt. Wirklich kein einziges! Selbst an der Kasse telephoniert sie weiter, kramt mit einer Hand Kleingeld aus der Tasche. Das Gespräch wird erst beendet, als sie draußen beide Hände fürs Rad braucht. Mit der Kleinen spricht sie immer noch nicht.

  3. ChaLi sagt:

    Geschichte gut, Kommentare gut.
    Deswegen trotzdem noch nich alles gut.

  4. Bernd Berke sagt:

    Ich zitiere aus der Textanzeige, die Google AdSense (reagiert mitunter eigenwillig auf Stichworte im Text)neben diesen Beitrag platziert (hat): „Kredit – auch ohne Schufa
    Wir lehnen Sie nicht ab! Kredite von 3.000 – 100.000 EUR…“

  5. Michaela sagt:

    Ähnlich war’s, als vor einiger Zeit ein kleines, etwas schmuddelig wirkendes Mädchen an der Edeka-Kasse stand, einige Dosen auf’s Band und einen angeknüllten Einkaufszettel dazu legte und mit den 2€, die Mama ihm mitgegeben hatte, nicht auskam. Es musste aber doch diese Dosen kaufen! Das war ein furchtbares Dilemma, und ich war froh, aushelfen zu können, obwohl ich den Verdacht hatte, dass Mama es genau darauf angelegt hatte. Aber das Kind war den Tränen nahe, und ich konnte es einfach nicht mit ansehen. Und vielleicht konnte Mama ja auch nicht anders. – Du hast da eine sehr schöne, wenn auch schrecklich traurige kleine Geschichte aufgeschrieben, Bernd!

    ********************************************************************

    Schon irgendwie anders:

    http://www.revierflaneur.de/2010/02/23/dienstag-23-februar-2010-wer-ist-dran/

  6. Antje sagt:

    Super geschrieben dieser Text. Ja, Hilfe anbieten ist das eine… das andere ist, ob man sie auch annehmen kann.
    Was in unserer Gesellschaft nicht stimmt wissen wir doch alle… aber sein wir mal ehrlich, wie hätten wir selbst in dieser Situation reagiert? Vor all denen die da vllt. noch mit an der Kasse standen unser Gesicht verloren, ein Almosen angenommen???
    Wortlos vorgehen, das fehlende Geld an der Kasse hinlegen.. wäre ein diskreterer Weg, mir dem die Dame vllt. hätte leben können und den sie eventuell dankbar angenommen hätte…
    Wenn ich an eine Familie in meiner Nachbarschaft Obst und Gemüse aus meinem Garten verschenke, dann tue ich das stets mit der Begründung ich hätte ohnehin zu viel und es wäre doch schade wenn es schlecht wird… es wird dankbar angenommen… auch Geben möchte gelernt sein…

  7. Fausto Maijstral sagt:

    Sehr rührend! Wunderbare Miniatur, die eine Menge über den Zustand unserer Gesellschaft aussagt. Danke!

  8. Stefan Dernbach sagt:

    In dieser Kürze steckt soviel Leben,
    dass es einen betroffen macht.

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