„Leo Kaplan“ – ein Romanheld in der erotischen Umlaufbahn

Von Bernd Berke

Leon de Winter kommt rasch zur Sache. Gleich auf den ersten Seiten ertappt er seinen Roman-Titelhelden Leo Kaplan beim Wesentlichen.

Der Enddreißiger, ein Autor in seiner bislang schlimmsten Schreibkrise, kann praktisch keinen lockenden Rockzipfel ungelüftet lassen. In den Worten de Winters: „Sollte er eine Seele haben, dann saß sie bei ihm zwischen den Beinen.“ Diesmal hat’s eine Studentin „erwischt“, die eine Arbeit über sein Werk verfassen will. Alsbald erkundet sie Sinnen und Trachten des Dichters auch auf physischem Terrain.

Im weiteren Verlauf der Handlung werden sich noch etliche Damen einreihen – von der hübschen Stewardess Paula, die Leo Kaplan im Flugzeug kennen lernt, über die diebische Hure in Kairo bis hin zur abgrundtief hässlichen einstigen Mitschülerin Roosje, mit der er es in einer Art „Gnadenakt“ treibt, weil sie doch so einsam geblieben ist. Dabei erfasst den zweifach Geschiedenen selbst die Rührung. Denn letztlich ist er ebenso allein. Dieses Gefühl lässt sich auch mit Sex nicht betäuben.

Die Eine, die Wahre nämlich, mit der er vor fast zwanzig Jahren als Student zusammen gelebt hat, die bekommt er dauerhaft nimmermehr. Dieser Ellen begegnet er nach all der Zeit in Rom wieder. Er ist auf Lesereise, sie mittlerweile Gattin eines treuherzigen niederländischen Diplomaten. Ein einziges Mal gehen Leo und Ellen dort noch miteinander ins Bett, als müssten sie einen Schlusspunkt unter dieses Lebenskapitel setzen.

Unter einer Glasglocke leben

Hals über Kopf hatte Leo sie damals in Amsterdam, in den wilden 60er Jahren, verlassen. Dabei hatten sie einander ergänzt – er als Nachfahre niederländischer Juden, sie als Abkömmling von Nazi-Kollaborateuren. Beide wollten loskommen von ihrer Abstammung, „unter einer Glasglocke“ wollten sie leben und nur der Liebe pflegen.

Aber plötzlich war ihm die „Revolution“ wichtiger gewesen. Zornig hatte Ellen ihm die rabiate Lüge entgegen geschleudert: Sie habe das gemeinsame Baby abgetrieben. Nun, in Rom, schmerzt der definitive Abschied so sehr, dass es Leo offenbar endgültig in eine erotische Umlaufbahn ohne Halt und Wiederkehr katapultiert. Weiblich bevölkerte Einsamkeit, sozusagen.

Für die ständigen Dreiecksverhältnisse drängt sich hier das Bild von drei Trapez-Artisten auf: Mann, Ehefrau und Geliebter in der Manege. Wie sie da schweben, sich fassen und lassen, das ist lebensgefährlich.

Das falsche Gehabe endlich ablegen

Gar nicht verquast kommen derlei Befunde daher, sondern saftig und beherzt zupackend. Der Niederländer Leon de Winter (46), bekannt durch Romane wie „Hoffmanns Hunger“, erzählt mit vielwissender Ironie, mit Bravour und vielfach melancholisch getöntem Witz von den fatalen Täuschungen der Liebe und von einem vielleicht zutiefst verfehlten Leben.

Der Held, der dieser drohenden Erkenntnis anfangs in allerlei seelische Bastionen, in Sex und Suff, in Genie-Phantasien, Attitüden und Posen ausweicht, legt solches Gehabe zusehends ab. Gestärkt durch seine allmählich wiederentdeckte jüdische Identität (und besänftigt durch eine Millionen-Erbschaft), stellt er sich seinem Schicksal schließlich mit offenem Visier, beseelt von höherer Heiterkeit.

So sehr steigert sich Leon de Winter zuweilen in seine Fabulierkünste hinein, dass die zahllosen Episoden und Ereignis-Ketten gleichsam ihre eigenen Bahnen ziehen – fast wie der bestürzend freie Leo. Am Ende löst sich alles dermaßen unverhofft ins Flüchtige auf, als würde sich der Roman in die Lüfte erheben. Ach, wer da mitfliegen könnte!

Leon de Winter: „Leo Kaplan“. Roman. Diogenes Verlag, 544 Seiten. 46,90 DM.

In einer Veranstaltung der Buchhandlung Krüger liest der Autor heute um 19.30 Uhr im Studio der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek (Königswall) aus dem Roman.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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