Schweres Material beginnt zu schweben – Skulpturen und Zeichnungen von Emil Cimiotti in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Ein Künstler kehrt an den Ort seiner ersten großen Erfolge zurück: Emil Cimiotti (65) hatte 1957 und 1959 in Recklinghausen den renommierten „Kunstpreis Junger Westen“ erhalten. Er staunt noch heute über die Folgen: „Seitdem konnte ich von meiner Kunst leben.“

Heute erzielen selbst mittlere Skulpturen des gebürtigen Göttingers Preise um 100 000 DM. In der Kunsthalle Recklinghausen, die ihm nun auf allen drei Etagen eine Retrospektive der Skulpturen und Zeichnungen ausrichtet, kann man seine künstlerische Entwicklung seit Mitte der 50er Jahre verfolgen.

Bei der Wahl des Materials zeigt Cimiotti Beharrungskraft: Von Anfang an hat er praktisch ausschließlich Bronze geformt. Hilfsweise hat man ihn dem „Informel“ zugeordnet. Doch bei Skulpturen ist das – anders als auf dem Felde der Malerei – mit der „Formlosigkeit“(Informel) so eine Sache: Die faßbare Präsenz des Materials und seine sinnliche Gestaltung widersprechen eigentlich dem Willen, Form aufzulösen.

Gerade dieser Widerspruch birgt jedoch die Spannung der Cimiotti-Werke. Mit ihren bizarren Zerklüftungen, die das Innerste des Materials nach außen zu kehren scheinen, sind sie im Ungewissen schwebende Abbilder der Seelenlandschaft und zugleich handfeste Dinge, sie sind gleichermaßen konkret wie abstrakt. Werktitel und Formensprache legen oft auch Erinnerungen an Naturformen nahe. Auch in diesem Sinne sind die Arbeiten nicht vollends losgelöst von aller Wirklichkeit. Die Schwebezustände, die Cimiotti mït dem doch recht kompakten und schweren Material zu erzeugen vermag, haben übrigens auch mit seiner speziellen Gußtechnik zu tun, die nur eine Materialdicke von etwa einem Zentimeter erlaubt. Daher also die Feingliedrigkeit und filigrane Wirkung vieler Stücke.

In den 70er Jahren schuf Cimiotti sitzende und hockende Großfiguren, durch deren „Körper“ die Skelettstruktur scheint – Sinnbilder für die Vergänglichkeit des Menschen. Häufig verwendete Fruchtformen scheinen aber in jener Zeit ein lebenspralles Gegengewicht zu bilden.

Zuletzt hat Cimiotti eine ganz andere, mehr ins Malerische ausgreifende Richtung eingeschlagen. Hell und licht bemalte Bronze-Arbeiten wie „Gipfel“, „Landschaft/ Schnee“ oder „Flacher Berg“ scheinen von jüngerer Kunst inspiriert zu sein. Angesichts dieser vitalen Arbeiten und spontaner Skizzen glaubt man kaum, daß man es mit einem seit Jahrzehnten eingeführten Künstler zu tun hat. Es ist, als habe Cimiottis Zukunft gerade erst begönnen.

Emil Cimiotti. Retrospektlve. Kunsthalle Recklinghausen (direkt am Hauptbahnhof). Bis 20. April.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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