Schrecken und Hoffnung Europas – „Notizen zum Stand der Dinge“ von Andrzej Szczypiorski

Nichts verstellt dem Schriftsteller Andrzej Szczypiorski den Blick für Gerechtigkeit. In seinem bis 1988 fortgeschriebenen Band „Notizen zum Stand der Dinge“, dessen Kernstück Aufzeichnungen zum Ende 1981 über Polen verhängten Kriegszustand bilden, findet sich auch der Versuch einer Ehrenrettung des Sozialismus.

Szczypiorski kritisiert jene Leute, die nach dem Scheitern des osteuropäischen Kommunismus gleich alles geistig „über Bord werfen“ wollen, was nur entfernt an diese Ideologie erinnert. Für einen, Menschen, der wegen seiner oppositionellen Ansichten unter Kriegsrecht interniert und drangsaliert worden ist (was er eindringlich beschreibt), eine ganz und gar bemerkenswerte Geste.

Ähnlich wie in seinem Bestseller-Roman .„Die schöne Frau Seidenman“, spricht der Nelly-Sachs-Preisträger wiederum die Deutschen, unter denen er in der NS-Zeit physisch noch weitaus mehr gelitten hat als später unter dem Kommunismus, von Kollektivschuld frei. Nicht alle Angehörigen dieses Volkes seien Unmenschen gewesen. Deutsehe und Polen hätten gar etwas „gemeinsam“, was z. B. Polen und Schweizer nicht hätten: „Denn wenn ich mit Deutschen rede, steckt darin eine gewisse Gemeinsamkeit. Wir haben aus derselben Schüssel der Verworfenheit gegessen. Ich auf der einen Seite der Schüssel – ihre Väter auf der anderen. Sie wie ich, wir sind eingebunden in unser schreckliches, gemeinsames Europa“.

Das Buch gibt aufschlußreiehe Innenansichten polnischen (Uber-)Lebens unter dem gewesenen Regime. Der Autor bricht Tabus, macht beispielsweise den lange verleugneten und verdrängten Antisemitismus vieler Polen namhaft. Nach Szczypiorskis Bericht über die ungeheure Wirkung des Papst-Besuches in Polen, der sich selbst der damalige „Betonkopf“ Jaruzelski nicht ganz entziehen konnte, ahnt man etwas von der Bedeutung des Katholizismus in Polen, die noch gesteigert wird durch die Tatsache, daß das Oberhaupt der Katholischen Kirche aus diesem Land stammt. Ein längeres Kapitel macht denn auch die Ermordung des Priesters Jerzy Popielusko als eigentlichen Umschlagpunkt der Stimmung im polnischen Volk aus, das sich seither überhaupt nicht mehr mit dem Regime hat abfinden können.

Ein weiterer Schwerpunkt der Notate ist hochaktuell und zukunftsweisend: der kulturelie Brückenschlag zwischen Ost- und Westeuropa – wahrlich eine Denk-Notwendigkeit, um den diversen Kapital-Bewegungen nicht gänzlich das kontinentale Feld zu überlassen. Szczypiorski sieht hier auch eine Schlüsselrolle seines Landes, weil es westeuropäisch-„lateinische“ Traditionen mit intensiven (wenngleich historisch oft schmerzlich-unfreiwilligen) Kontakten zum ganz anders geprägten Russland verbinde.

Das „Rohmaterial“ nüchterner Notizen wechselt mit ausgearbeiteten literarischen Passagen. Der Stil ist niemals „brillant“, nie eitler Selbstzweck, sondern dient immer der möglichst präzisen Mitteilung, steht im Dienste von Differenzierung, Nuance und Wahrhaftigkeit.

Andrzej Szczypiorski: ..Notizen zum Stand der Dinge“. Diogenes-Verlag, 262 Seiten.. 29,80 DM.

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 1 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Geschichte, Literatur, Politik und so abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.