Der Wetterpilz – ein deutsches Phänomen?

Dieser Tage fotografiertes Prachtexemplar der Gattung: der in den 1950er Jahren errichtete Wetterpilz auf dem Dortmunder Hauptfriedhof – Geo-Koordinaten laut Homepage www. wetterpilze.de: 51.515964, 7.546124. (Foto: Bernd Berke)

Wie nennen wir sie eigentlich, diese schützenden „Pilze“, die meist in Wäldern oder Parks aufragen und bei Wind und Wetter als Unterstand dienen? Nun, je nach Region wohl ganz unterschiedlich. Am häufigsten heißen sie Wetterpilze oder eben Schutzpilze, andernorts auch Rastpilz, Schirmdach, Parasol oder (im Süden der Republik) Schwammerl.

Als ich neulich mal wieder ein Gewächs aus der naturnahen Gattung sah, dachte ich, dass man darüber auch mal ein paar Zeilen schreiben sollte, denn es schien mir, als seien Wetterpilze ein typisch deutsches Phänomen. Wie es sich vergleichsweise mit der Schweiz und Österreich et cetera verhält, das müsste noch näher beleuchtet werden. Zusatzfrage: Darf man sich bei Blitz und Donner unter einen solchen Pilz begeben? Reichlich Stoff für Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten! Aber in welcher Fakultät? Vielleicht doch Architektur, schon wegen der vielfältigen Pilz-Dachformen.

Als Laie habe ich zunächst eine Suchmaschine angeworfen – zum Thema, das ich nahezu für mich allein zu haben glaubte. Doch weit gefehlt! Sehr schnell bin ich auf den Namen Klaus-Heinz Herda gestoßen. Der Kölner ist offenbar geradezu besessen von Wetterpilzen. Er betreibt dazu eine einschlägige Homepage, sammelt allüberall Fotografien und mehr oder weniger detaillierte Beschreibungen dieser Zufluchten. Mit Hilfe einer überschaubaren Community und mit Online-Diensten versucht er, im Waldesgrün verborgene Pilz-Plätze zu orten. Überdies ist er dankbar für jeden konkreten Hinweis. Ob demnächst auch KI zum Einsatz kommen wird? Man weiß es nicht.

Rund 1000 Exemplare in der ganzen Republik?

Aus all diesen Nachforschungen sind mit der Zeit veritable „Wetterpilz-Karten“ entstanden, die die Schutzschirme geographisch exakt zuordnen. Rund 300 Stück hatte Herda – einem Bericht der „Leipziger Zeitung“ zufolge – bereits im Jahre 2013 beisammen. Damals schätzte er den mutmaßlichen Gesamtbestand auf rund 1000 Exemplare in ganz Deutschland. 2013 war es auch, als die Wochenzeitung „Die Zeit“ über Herda und seine erstaunliche Wetterpilz-Expertise schrieb (Ausgabe No. 30 vom 18. Juli 2013 – auch im eingangs verknüpften Wikipedia-Artikel verlinkt). Am 31. Juli 2020 kam dann die Tageszeitung (TAZ) ausführlich auf Herda und seine Leidenschaft zurück.

Je mehr Wetterpilze gelistet wurden, desto deutlicher haben sich auch Ansätze zu einer Typologie ergeben: In und um Köln, so hat Herda festgestellt, bestehen die Pilze größtenteils aus Beton, im Ruhrgebiet (wen wundert’s?) haben sie häufig ein stählernes Gerüst, in anderen Landstrichen herrscht Holz vor. Lauter unscheinbare Sonderfälle der Architekturgeschichte. Apropos Historie: Die ersten Wetterpilze wurden in unseren Breiten gegen Ende des 18. Jahrhunderts errichtet, anfangs noch als Bestandteil der Gartenkunst und zum Vergnügen des Adels. Ferne Vorbilder waren Standschirme in der Südsee, wie sie z. B. Captain James Cook bei seinen Expeditionen gesehen hatte. Im 19. Jahrhundert wurden die Pilze in Preußen „Tahitisches Schirmdach“ genannt. Damit wäre Jauchs Millionenfrage beantwortet.

Stählerne „Gewächse“ im Ruhrgebiet

Längst hat Klaus Herda, mit Unterstützung weiterer Pilzfreunde, auch in anderen Ländern (meist eher vereinzelte) Standorte gefunden. Doch tatsächlich sind sie wohl in Deutschland in besonderer Dichte aufzuspüren, nicht zuletzt im Ruhrgebiet und hier wiederum speziell in Dortmund, beispielsweise im Westpark, im Fredenbaumpark, auf dem Hauptfriedhof, im Hoeschpark und im Rombergpark. Wenn ich es richtig gesehen habe, hat Klaus Herda in seinen Verzeichnissen bis heute (mindestens) eine Dortmunder Stelle noch nicht erfasst, nämlich jene im Niederhofener Wald. Was die Fülle anbelangt: Okay, in Berlin gibt es noch ein paar mehr. Kunststück – bei der Fläche. Auch der angeblich weltgrößte Wetterpilz soll in der Hauptstadt stehen, genauer: in Berlin-Frohnau. Wie denn überhaupt laut TAZ Berlin ein Hotspot der „Pilzkultur“ ist.

Ein Platz für hart gekochte Eier

Wetterpilze haben etwas anheimelnd Gestriges, ja Konservatives an sich. Oder sollte ihnen auch etwas Muffiges anhaften? Man denkt vielleicht an die 1950er oder frühen 1960er Jahre, an Wanderausflüge und Jugendherbergen traditionell bescheidenen Zuschnitts, an Picknick-Rast mit selbst geschmierten Butterbroten, Schnitzeln und gekochten Eiern, womöglich auch an heimatliche Zusammenschlüsse wie den SGV (Sauerländischer Gebirgsverein). Sonderlich „Cool“ klingt das alles nicht. Freilich dürften heute im Schatten der Pilze auch schon mal ganz andere Dinge als harte Eier konsumiert werden.

Schließlich noch ein Vorschlag zur Güte: Statt dass „woke“ Leute abschätzig über „Biodeutsche“ oder gar „Kartoffeln“ spotten, könnten sie meinethalben „Ihr Wetterpilze!“ sagen. Hört sich doch irgendwie netter an, oder?

Klaus Herdas Homepage: www.wetterpilze.de

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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