Politiker mit Widersprüchen: Buch lenkt den Blick auf die menschliche Seite von Willy Brandt

Die Willy-Welle schwappt durch das Land, unter anderem Spiegel, Stern und Zeit haben ihm ausführliche Rückblenden gewidmet. Der 100. Geburtstag von Willy Brandt am 18. Dezember ist auch der Anlass für die Neuauflage der Biographie von Gregor Schöllgen.

„Eine Annäherung“ wäre für das Buch des renommierten Professors für Neuere Geschichte an der Uni Erlangen wohl der treffende Untertitel, schaut der Autor doch vor allem auf den Menschen Willy Brandt mit allen seinen Widersprüchen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Schöllgen, der den Nachlass des Friedensnobelpreisträgers von 1971 mitherausgegeben hat, legt hier keine Homestory vor. Er zeichnet vielmehr den Lebensweg des langjährigen SPD-Politikers nach, einen Weg, auf dem Siege und Niederlagen, Höhen und Tiefen meist ganz nah beieinander lagen.

schoellgen

Dabei war es wohl, wenn man den Ausführungen Schöllgens folgt, die menschliche Seite Brandts (der durchaus das Leben zu genießen wusste), die zu seiner Popularität maßgeblich beitrug. Aber es war auch die Achillesferse. Sehr deutlich arbeitet der Geschichtswissenschaftler heraus, dass Brandts Rücktritt 1974 keine zwingende Konsequenz aus der Guillaume-Affäre darstellte, sondern der Kanzler politisch müde, gesundheitlich angeschlagen und von Gegnern bedrängt das Amt aufgab.

Intimfeind Herbert Wehner

So sehr der Intimfeind, SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, an Brandts Sturz mitgewirkt haben mag, so kann man aber auch nicht übersehen, wie massiv den Sozialdemokraten die Strapazen, die die Aufgaben als Regierungschef mit sich brachten, und die ständigen Quengeleien in Fraktion und Koalition ihm zugesetzt hatten. Schöllgens Schilderungen lassen das Bild vom allzu schnell verglühten Stern am Polithimmel aufkommen, der mit dem zweiten Wahlsieg 1972 eigentlich schon seinen Zenit überschritten hatte.

Ein neuer Stil, weltoffen, modern und diskussionsfreudig, hatte mit ihm und seiner Frau Rut Einzug gehalten in das politische Bonn Ende der 60er Jahre. Trotz des positiven Echos, das dem Paar gegönnt war, ist Brandt selbst aber nie wirklich in Bonn heimisch geworden.

Sehnsucht nach Berlin

Mit Wehmut dachte er häufig an die Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin zurück, wo er sich eins fühlte mit der Bevölkerung und diese ihn hochachtete. In der geteilten Stadt gründete sich eine Popularität nicht zuletzt auf sein Verhalten beim Mauerbau. Er stand zu den Berlinern, als diese sich von Kanzler Adenauer und den Westmächten im Stich gelassen fühlten. Neue Pfade hatte Brandt aber auch in Berlin beschritten. Er setzte auf eine vorwärtsgewandte SPD, die sich zum einen mit den Realitäten des geteilten Deutschlands abfinden und zum anderen nicht mehr nur als Arbeiterpartei verstehen sollte. Seine Wahlkämpfe waren von Anleihen in der amerikanischen Politik geprägt, gezielt wusste er sein Familienleben in Szene zu setzen und für seine Zwecke zu nutzen.

Jemand wie Brandt reizte folglich zum Widerspruch – auch und gerade in den eigenen Reihen. Die Stärke des Buches liegt vor allem darin, diese Konfliktlinien sehr deutlich herauszuarbeiten. Die Partei wusste, was sie an ihm hatte, und für ihn, der nach heutigen Maßstäben in einer Patchwork-Familie aufwuchs, erfüllte die Partei eine Ersatzfunktion familiärer Art. Sein Redetalent, seine Schreibbegabung (als gelernter Journalist), seine Fähigkeit, „mit Menschen zu können“, brachten ihm viele Sympathien und anfänglich auch den Rückhalt von Wehner ein, der immer mehr von ihm ließ, als vermeintliche Schwächen sich bemerkbar machten. Zu einer echten Versöhnung sollte es auch später nicht mehr kommen, anders beim innerparteilichen Kontrahenten Helmut Schmidt, mit dem er sich in den letzten Lebensjahren zumindest aussprach.

Schwieriges Verhältnis zur SPD

Das Verhältnis zwischen Brandt und der SPD war längst nicht durchgängig entspannt. Beispielhaft steht dafür die Haltung des Vorsitzenden zum Nato-Doppelbeschluss und die Proteste Anfang der 80er Jahre.
Partei hin oder her, sind mit dem Namen Willy Brandt aber nicht viel mehr Ereignisse wie der Kniefall von Warschau, der Tag von Erfurt oder sein Slogan „Mehr Demokratie wagen“ verbunden? Wo bleiben sein Engagement als Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen oder der Nord-Süd-Kommission? Das alles sind, daran lässt Schöllgen keinen Zweifel aufkommen, Marksteine im politischen wie auch persönlichen Leben des Sozialdemokraten.

Wer Brandt aber verstehen möchte, der muss seinen Werdegang von Beginn an nachvollziehen. Dazu gehört die kleinbürgerliche Welt in der Geburtsstadt Lübeck, was keineswegs despektierlich zu verstehen ist, dazu gehört vor allem auch sein Exil in Norwegen und Schweden, als er vor den Nazis flüchtete. Die Jahre sollten Stoff liefern für Diffamierungen und Verleumdungen, unter anderem machte man ihm zum Vorwurf, mit der Sowjetunion kollaboriert zu haben. Verbindungen hätten zwar in Ansätzen existiert, aber nach dem Überfall Hitlers auf die UdSSR sei er da keineswegs allein gewesen, unterstreicht der Autor. Die immer wiederkehrenden Anwürfe gegen den Sozialdemokraten lassen nach den Worten von Schöllgen vor allem übersehen, dass Brandt sich politisch gegen die Nazis engagierte und der Widerstand in Deutschland sehr wohl den Kontakt zu ihm gesucht habe.

Frauengeschichten nur Nebensache

Widersacher, die ihm das Leben schwer machen, hat Brandt zur Genüge erlebt, doch auch er wusste auszuteilen, beispielsweise, als die Teilung Deutschlands überwunden war. Von Oskar Lafontaine, den er zunächst protegierte, wandte er sich enttäuscht ab, als der die Einheit Deutschlands mit großer Skepsis betrachtete.

Ist Brandts Biographie eigentlich unvollständig erzählt, wenn man die Frauengeschichten weglassen würde? Wurden sie ihm nur angedichtet, um ihn zu Fall zu bringen? Schöllgen stellt hier eher Aussage gegen Aussage und lenkt, und da ist man als Leser auch nicht befremdet, den Blick auf die Lebensleistung des Sozialdemokraten.

Sein eigenes Leben hat Willy Brandt vor allem durch Schreiben verarbeitet und so viele Bücher veröffentlicht wie kaum ein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts. Es wurde aber auch über kaum einen anderen so viel geschrieben wie über den Mann, mit dem die SPD erstmals einen Kanzler stellte, der zwei Mal in dieses Amt gewählt wurde, der drei Mal verheiratet und Vater von vier Kindern war. Schöllgen gibt einen Überblick über die Literatur und ordnet sie ein – auch das ist eine lesenswerte Orientierungshilfe.

Gregor Schöllgen: „Willy Brandt. Die Biographie“. Berlin Verlag. 336 Seiten. 19,99 Euro.

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