Rossini-Rarität am „Opernhaus des Jahres“: Nationaltheater Mannheim zeigt „Tancredi“

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis "Tancredi". Foto: Hans Jörg Michel

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis „Tancredi“. Foto: Hans Jörg Michel

Das Nationaltheater Mannheim – gemeinsam mit Frankfurt „Opernhaus des Jahres“ 2015 – hat in dieser Saison einen Spielplan, der jedem auf Auslastung und Publikumsbedienung fixierten Theaterchef den Sorgenschweiß auf die Direktorenstirn treiben würde: Noch wehte Franz Schrekers „Der ferne Klang“ durch die mächtige Schachtel des Zuschauerraums, da kündigten sich schon Hans Werner Henzes „Die Bassariden“ an, gefolgt von Gioacchino Rossinis „Tancredi“.

Und so geht es weiter im Hause von Klaus-Peter Kehr: Am 10. Januar hat Jacques Fromental Halévys „Die Jüdin“ Premiere, sieben Wochen später Sergej Prokofjews „Der Spieler“. Und danach als Uraufführung Bernhard Langs „Der Golem“. Selbst der Mozart-Abschluss im Juli meidet Populäres, widmet sich dem „Idomeneo“. Zum Vergleich: In Essen mokieren sich bestimmte Kreise schon, weil einmal nicht die Braut verkauft, sondern aus dem slawischen Repertoire eine Kostbarkeit wie Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ die spärliche Zahl der Neuinszenierungen eröffnete.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Rossinis erster Welterfolg „Tancredi“ von 1813 ist längst auf die internationale Opernszene zurückgekehrt – nur in Deutschland nicht. Schon in den siebziger Jahren tourte Marilyn Horne mit dieser Partie durch die Welt, und die kritische Edition (1977/1984) ermöglichte verantwortungsvolle Aufführungen. Die gab es in germanischen Gefilden auch, aber nur an speziellen Orten, bei den Schwetzinger Festspielen etwa (1992) oder beim Rossini Festival in Bad Wildbad (2001).

Mit der Mannheimer Inszenierung durch Cordula Däuper wagt es nun ein großes Opernhaus, „Tancredi“ ins Repertoire aufzunehmen. Zeit dazu wird’s, denn inzwischen stehen auch Sänger bereit, die Rossinis anspruchsvolle Partien stilistisch adäquat bewältigen und gestalten können. Und obwohl Librettist Gaetano Rossi das subtile Geflecht der Begründungen für den Verlauf der Tragödie – Vorlage ist Voltaires „Tancrède“ – radikal zerrissen hat, bleibt noch genug inhaltliche Substanz, um sich auch ohne Vorwissen auf die unglücklichen Figuren einlassen zu können.

Der Ritter Tancredi ist, weil Feind der herrschenden Familie, aus dem Syrakus des 11. Jahrhunderts verbannt, kehrt aber voll Sehnsucht nach der Heimat und seiner Geliebten Amenaide heimlich zurück. Er muss erfahren, dass sich die rivalisierenden Familien von Argirio – dem Vater Amenaides – und Orbazzano verständigt haben, weil die Stadt von Sarazenen bedroht wird. Unterpfand der Allianz ist Amenaide: Die heftig widerstrebende jungen Frau soll eine politisch alternativlose Ehe mit Orbazzano eingehen. Ihr Brief an Tancredi wird abgefangen und fälschlich als Schreiben an den Anführer der Sarazenen interpretiert. Amenaide droht nun als Verräterin der Tod – und auch Tancredi vertraut ihr nicht mehr. Er rettet sie zwar im ritterlichen Zweikampf mit Orbazzano vor der Hinrichtung, sucht aber dann aus enttäuschter Liebe den Tod in der Schlacht.

Die Musik wendet sich den Menschen zu

Rossis Libretto verweigert den stringenten dramaturgischen Zusammenhang. Die Aufklärung der Missverständnisse wäre – ähnlich wie in Webers „Euryanthe“ – problemlos möglich. Doch darauf kam es den mit Voltaire vertrauten Zuschauern der Entstehungszeit nicht an. Und die Ängste, Sehnsüchte und Träume, die Wut, Verzweiflung und Depression der handelnden Figuren, auf die Rossini sein Augenmerk richtet, vermitteln sich, von dramentheoretischen Einwänden unverstellt, heute wieder direkt und berührend.

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Der Vater Argirio etwa ist kein standardisierter Bösewicht, kein unbeugsamer Politiker. Seine große Szene im zweiten Akt mit der bedeutsamen Arie „Ah! Segnar invano io tento“ zeigt ihn als zerrissenen Menschen. In seinem Inneren bringt der politische Druck die Stimme der Natur – die um Gnade für die Tochter wirbt – zum Schweigen. Das lässt ihn seelisch zerbrechen. Für diesen Moment wie auch für die Klagen Amenaides verliert Rossinis Musik ihre klassizistische Ausgewogenheit nicht, aber ihr sozusagen aus olympischen Höhen schweifender Blick wendet sich dem Menschen ganz nah und empfindsam zu. Nicht nur die kostbare Miniatur des Sicilianos der Einleitung zu „Di tanti palpiti“, dem „Schlager“ der Oper, weist voraus auf den Rossini der Experimente in Neapel, in denen er das romantische Gefühl in die Musik einsickern lässt, ohne ihre objektivierende Distanz aufzugeben.

Rubén Dubrovsky und das klein besetzte Orchester des Nationaltheaters nähern sich diesen Momenten seelenvoller Schönheit behutsam, mit sanfter Artikulation und drucklosem Klang. Dubrovsky achtet darauf, den Rhythmus federn zu lassen, die Bläser leuchtend und leicht zu halten, den Streicherapparat nicht in die Falle der Simplizität laufen zu lassen. Denn oft verleitet Rossinis kinderleicht anmutende Musik dazu, sie langweilig abzuspielen statt mit lebensvollen Nuancen zu formen. Nicht immer gelingt das: Die Ouvertüre gerät steif und mit zu massiven Tutti; das erwähnte Siciliano läuft im Metrum zu wenig flexibel ab. Da fehlt der Musik der Duft.

Das Heil der Inszenierung in der Reduktion gesucht

Unter den Sängern überzeugt ausgerechnet der als Rossini-Spezialist ausgewiesene Filipo Adami als Argirio am wenigsten: ein enger, nasig in die Höhe getriebener Ton, manchmal ein brüchiges Vibrato, eine kaum flexible Gestaltung der Linien. Eunju Kwon als Amenaide macht vor, wie’s gehen könnte. Sie hat die Leichtigkeit und den süßen Ton, die einwandfrei gebildeten Verzierungen und die verschatteten Farben für die Stellen der Resignation, der Trauer, der Depression. Im Duett mit dem Tancredi von Marie-Belle Sandis harmonieren die Stimmen delikat; im Duett mit Adamis Argirio laufen sie nebeneinander her.

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Sandis singt ihre weltberühmte Auftritts-Cavatina nicht als Virtuosen-Demonstration, sondern verinnerlicht und mit viel Gefühl; als auffahrender Krieger fehlt ihr der Aplomb des Heroen, wie ihn Marilyn Horne unvergleichlich auf die Bühne gebracht hat. Aber Sandis weiß durch klugen Stimmeinsatz diese natürliche Begrenzung ihres Contralto wettzumachen. Reizend macht Ji Yoon mit der Arie des Roggiero auf sich aufmerksam. Sung Ha als Orbazzano gibt auch stimmlich den groben Militär, Julia Faylenbogen hat als Isaura keine Chance, sich zu profilieren,

Cordula Däuper und ihr Bühnenteam Ralph Zeger und Sophie du Vinage suchen ihr Heil in der Reduktion – nicht ohne Überzeugungskraft: ein Spielpodest in schwarzer Bühne, eine Brücke nach hinten zu einer Tür, wenige Requisiten, Kostüme, die Militärisches des 20. Jahrhunderts mit Elementen der napoleonischen Zeit der Entstehung der Oper reflektieren. Däuper interessiert sich für die Konstellationen von Seelenzuständen, versucht nicht, die antirealistische, kunstvolle Stilhöhe des Dramas mit quasi naturalistischer Aktion aufzufüttern.

Chiffren wie das Brautkleid oder ein in die Erde gepflanzter, nach dem Scheitern des Hochzeits-Deals wieder ausgerissenes Bäumchen spielen eine Rolle, ebenso ein Kinderpaar. Die beiden fegen über die Bühne, als Amenaide sich an ihren Geliebten erinnert; später wird ihr Vater das kleine Mädchen in einen Geschenkkarton stecken, so als wolle er sein Idealbild seiner Tochter konservieren. Die Elemente spielen eine Rolle – Erde auf dem Podest, Wasser als Regen, Luft und das finale Feuer, in dem Tancredi sein Ende findet. Man spielt in Mannheim den tragischen Schluss, den Rossini anstelle des „lieto fine“, des glücklichen Endes der venezianischen Uraufführung, wenige Wochen später für Ferrara konzipiert hat.

Rossini-Rarität auch in Frankfurt

Auch das andere „Opernhaus des Jahres“ hat eine Rossini-Rarität im Repertoire: Seit Dezember spielt Frankfurt wieder seine düster-überzeugende Version der „diebischen Elster“, eine kafkaeske Kleine-Leute-Geschichte mit einer rundum überzeugenden Ensemble-Leistung. Das Konzept, auch wenig Bekanntes in qualitätvollen Inszenierungen vorzustellen, durchzieht Bernd Loebes Intendanz bisher und wird sich auch fortsetzen: Im Herbst zeigte die Oper Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ in einer musikalisch eindrücklichen, szenisch von Altmeister Harry Kupfer überraschend bieder arrangierten Aufführung. Am 23. Januar folgt die Neuinszenierung einer einst beliebten, aber seit Jahren nicht mehr aufgetauchten italienischen komischen Oper: „Le cantatrici villane“ („Die Dorfsängerinnen“) von Valentino Fioravanti. Und kurze Zeit später, am 31. Januar, erlebt Giuseppe Verdis verkanntes Meisterwerk „Stiffelio“ seine Frankfurter Erstaufführung. Dazu im April mit „Radamisto“ noch eine Händel-Rarität. Und das alles bei glänzenden Besucherzahlen. So geht Oper: lustvoll, originell, neugierig.

Rossinis „Tancredi“ in Mannheim am 16.01., 17. und 24.03. und 15.04.2016. Karten: (0621) 1680 150, www. nationaltheater-mannheim.de

Rossinis „La gazza ladra“ in Frankfurt zum letzten Mal in dieser Spielzeit am 08.01.2016. Karten: (069) 212 49 49 4, www.oper-frankfurt.de

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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