„Es kommen härtere Tage“ – Hans Magnus Enzensberger hat 99 literarische Überlebenskünstler porträtiert

Zum Berufsbild von Dichtern und Denkern (jedenfalls von denen, die etwas auf sich und ihr Werk halten) gehört es, den Macken und Marotten des Zeitgeistes zu widerstehen, den Aufregungen der politischen Zeitläufte zu widersprechen, vermeintliche Gewissheiten anzuzweifeln und nicht Öl ins Getriebe der Welt zu gießen, sondern Sand Sand dorthin zu streuen.

Dass sie den Mächtigen stets schwer auf die Nerven gingen, die Geheimdienste schon immer ein Auge auf sie hatten und manche für immer in den Kerkern der Polizei und den Arbeitslagern der Parteidiktaturen verschwanden, liegt auf der Hand. Doch erstaunlich viele dieser Querdenker und literarischen Quälgeister haben die Krisen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt, sind ins Exil geflohen oder in die innere Emigration gegangen, haben sich zum Schein angepasst, um im Stillen einfach weiter zu schreiben an ihrem intellektuellen Aufklärungs- und literarischen Zerstörungs-Werk.

Strategien gegen Verführung und Vermarktung

Wie man zwischen Widerstand und Anpassung jongliert und den Kompromiss zum Lebens-Elixier macht, haben so manche Schriftsteller vorgeführt. „Es kommen härtere Tage“, schreibt Ingeborg Bachmann 1958 in ihrem Gedicht „Die gestundete Zeit“ den Kollegen ins Stammbuch: „Für den Fall, dass sie recht hat, könnte ein Training in der Kunst des Überlebens von Nutzen sein.“ Das jedenfalls meint Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929), dieser literarische Tausendsassa und intellektuelle Luftikus, der in seinem langen Leben schon manchen politischen Drahtseilakt und einige rhetorische Wendemanöver vollführt und es geschafft hat, sich dem Zugriff seiner Feinde und den Umarmungen seiner Freunde zu entziehen. Weil Enzensberger wissen will, welche Strategien Schriftsteller haben, um Verführung und Vermarktung zu widerstehen und Terror und Säuberungen zu überleben, porträtiert er „Überlebenskünstler“ und skizziert „99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert.“

Von Hamsun über Feuchtwanger bis zu Irmgard Keun und Peter Weiss

Seine Auswahl und Herangehensweise ist radikal subjektiv. Er beschreibt nur, was ihn interessiert und seine Fantasie anregt. Knut Hamsun, der mit den Faschisten flirtete, ist genauso dabei wie Maxim Gorki, der sich bei Stalin anbiederte. Lion Feuchtwarmer, der vor Hitler über Frankreich nach Amerika floh und es im Exil schaffte, seinen aufwendigen Lebensstil fortzusetzen. Jaroslav Hasek, der mit seinem braven Soldaten Schwejk listig lächelnd alle Weltbeglücker und Staatenlenker verlachte. Anna Achmatowa und Nelly Sachs, Boris Pasternak und Johannes R. Becher, Irmgard Keun und Peter Weiss – die Liste der Autoren, deren Überlebenskünste Enzensberger mit wenigen Worten umreißt, ist lang.

Das alles ist, weil Enzensberger ein ironischer Flaneur ist, meistens nicht nur ziemlich lehrreich, sondern und oft auch reichlich komisch. Am schönsten aber sind seine „Vignetten“ bei den Autoren, die er persönlich kannte, mit denen er befreundet war oder intellektuelle Scharmützel ausgefochten hat. Mit Heiner Müller hat er sich gern gestritten und ihn, als er bei einer Veranstaltung einen Toast auf ihn ausbrachte, seinen Bewunderern als den „führenden Sado-Marxisten“ ans Herz gelegt.

Die unbegreifliche Tragik des Imre Kertész

Warmherzig denkt Enzensberger an Imre Kertész, der Auschwitz überlebte, sich im stalinistischen Ungarn der Nachkriegszeit mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, bevor er mit dem „Roman eines Schicksallosen“ zu Weltruhm gelangte und den Literaturnobelpreis bekam. Doch auch das schützte den todkranken jüdischen Autor, der 2001 ins Berliner Exil ging, in seiner Heimat nicht vor antisemitischen Anfeindungen. Mit Rührung und Verehrung notiert Enzensberger: „Imre konnte, als ich ihn zum letzten Mal sah, nicht mehr schreiben, er stotterte, zitterte und war hinfällig. Ich wundere mich darüber, dass er es so lange unter uns ausgehalten und dass er es fertigbrachte, auch dieses Wunder noch zu überleben.“

Hans Magnus Enzensberger: „Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert“. Suhrkamp Verlag, Berlin, 377 S., 24 Euro.

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