Das Grauen lauert hinter den Tapeten: Brittens „The Turn of the Screw“ in Düsseldorf

Von Schatten gejagt: Die Gouvernante (Sylvia Hamvasi) im Bann der Gespenster in "The Turn of the Screw" von Benjamin Britten in Düsseldorf (Foto: Hans Jörg Michel)

Von Schatten gejagt: Die Gouvernante (Sylvia Hamvasi) im Bann der Gespenster in "The Turn of the Screw" von Benjamin Britten in Düsseldorf (Foto: Hans Jörg Michel)

Wir blicken hinter die Tapeten, die ältliche, großmustrige Wandverkleidung, die an die verstaubte Gediegenheit englischer Landhäuser erinnert. Hinter der Fassade geschehen sinistre, unheimliche Dinge, dämonisch, nicht benennbar. Dort geistern schattenhafte Gestalten, deren Namen, werden sie ausgesprochen, den Tod bringen. Benjamin Brittens Oper „The Turn of the Screw“ – ein unübersetzbarer, auch im Englischen rätselvoller Titel – ist ein perfektes Schauerstück. Nicht im Sinne trivialgrusliger Gespenstergeschichten, sondern als Thriller des Undeutbaren, der unter die Haut geht.

Wie die Novelle von Henry James (1898) schafft Brittens Oper (1954) eine Atmosphäre des Ahnungsvollen, Ungreifbaren. Nichts ist eindeutig, nirgends lässt sich ein klarer, nachvollziehbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung festmachen. Selbst scheinbar unbezweifelbare Fakten und Beobachtungen verlieren ihre Evidenz, werden zu Mosaiksteinen in einem Bild, das sich, wie auch immer man es betrachtet, jedes Mal anders zusammensetzt.

Die Tapeten sind ein wiederkehrendes Bild in Kaspar Zwimpfers Bühne für Immo Karamans Inszenierung von „The Turn of the Screw“ an der Deutschen Oper am Rhein. Eine Trias von Britten-Opern in Düsseldorf vollendet diese Premiere am 4. Mai, der Karaman bereits „Peter Grimes“ und „Billy Budd“ vorausgeschickt hatte. Ob im 100. Geburtsjahr des Komponisten 2013 eine weitere Inszenierung dazukommt, ist noch unklar. Sinnvoll wäre es – denn die Rheinoper will den für das 20. Jahrhundert epochemachenden Briten umfassend würdigen. Karaman hat am Münchner Gärtnerplatztheater eine ausgezeichnete Interpretation von „Death in Venice“ geschaffen; er wäre der richtige Mann etwa auch für „Gloriana“, „Albert Herring“ oder die schräge Operette „Paul Bunyan“.

Henry James, selbst ein vieldeutiger Charakter aus der viktorianischen Zeit, schreibt mit „The Turn oft he Screw“ eine Geschichte, die formal so penibel kalkuliert ist wie eine Mathematikaufgabe – aber eine, die unendlich viele Lösungsmöglichkeiten offen lässt. Britten folgt mit seiner Librettistin Myfanwy Piper dem Thema auf dem nebligen Pfad zwischen Gespensterstück und psychoanalytischer Erzählung. Innen und Außen, Wirklichkeit und Phantom, sichtbare und übersinnliche Welt verschränken sich unlösbar.

Die äußere Handlung ist schnell erzählt: Ein vielbeschäftigter Londoner Anwalt engagiert für zwei einsam auf einem abgelegenen Landsitz lebende Kinder eine Erzieherin. Anfangs scheint das harmonische Zusammenleben ungetrübt, aber dann schleichen sich seltsame Schatten in die Idylle. Die Haushälterin identifiziert sie als Peter Quint und Miss Jessel, Hausdiener und frühere Gouvernante, die beiden unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen sind. Auch die Kinder zeigen immer auffälligeres Verhalten. Entschlossen, den Geheimnissen auf die Spur zu kommen und überzeugt vom verderblichen Einfluss der Geister der Toten, will die junge Governess ihre Schützlinge retten – mit schlimmen Folgen…

Karaman greift für dieses Stück die Techniken einer ruhigen, am Geschehen orientierten Erzählweise auf, bricht die Szenen selten auf, öffnet aber durch herausgehobene Details den Blick für das Monströse hinter den Abläufen. Das Ambiente der Bühne Zwimpfers erinnert an das klassische englische „haunted house“; eine Treppe und ein hoher Durchgang bilden das zentrale Setting, das sich allmählich ins Surreale verdreht. Daneben gibt es nur wenige, bedeutungsvolle Accessoires: zwei Waschbecken, zwei Schulstühle, ein Bett.

Die Kinder sind abgerichtet: Knicks und Diener zur Begrüßung genau im Takt der Musik, mechanisch, dressiert. Erste Anzeichen von Gewalt: Miles, eine Maske vor die Stirn hochgezogen, tut seiner Schwester weh. Die beklemmende Atmosphäre verdichtet sich: Miles verliert sich abwesend in dem Lied mit den „Malo“-Rufen: „Malo, in der Not allein…“. Und Quints Schatten zeigt sich zum ersten Mal. Flora spielt gedankenverloren mit ihrer Puppe, zieht sie aus und ertränkt sie im „Toten Meer“ des Waschbeckens – und der Geist Miss Jessels erscheint als Spiegelbild der Gouvernante, dazu der spieluhrenhaft unwirkliche Klang der Celesta.

Über Henry James‘ Erzählung gibt es einen Berg von Literatur. Die Frage, ob die Gespenster-Erscheinungen echt oder bloße Phantasmagorie sind, äußere Manifestationen oder Gestalt gewordene psychische Bilder, wurde mit guten Argumenten für die eine und die andere Auffassung diskutiert. Freud, Jung und der Marxismus wurden ebenso bemüht wie Esoterik und christliche Theologie. Karaman versteht es souverän, seine Deutung in der Schwebe zu halten. Dass er die „Gespenster“ durch unsichtbare Stimmen, aber auch durch die unverstellte Leiblichkeit von Tänzern darstellen lässt, legt nahe, eine über eine bloße Psycho-Schau hinausgehende Deutung anzunehmen. Der düstere Jüngling mit der „gothic“ Frisur (Ulrich Kupas) erinnert an den verführerischen Verworfenen aus „Paradise Lost“, könnte auch eine erotische Fantasie der Gouvernante verkörpern. Die spinnwebverhüllte Gestalt der Miss Jessel (Anna Roura-Maldonado) könnte das abgestorbene Weibliche ebenso symbolisieren wie unterdrückte Sexualität.

Und was für Spiele treiben die Kinder? Warum bezeichnet sich Miles als „bad“? Ist er hilflos gegenüber seiner erwachenden Sexualität? Schwebt er zwischen einem ungerichteten Schuldgefühl und dem Bewusstsein seiner männlichen Begierde, mit der er die Gouvernante küsst? Spielen die Kinder einen Missbrauch nach? Oder probieren sie ihre erwachende Begehrlichkeit aus, gespalten zwischen Neugier, puritanischer Verleugnung der Sexualität und innerem Erschrecken? Oder manifestiert sich tatsächlich das Böse; sind sie von den Geistern besessen, die sich der Kinder bedienen, um ihre sexuelle Hörigkeit körperlich ausleben zu können?

Wie Henry James hält auch Immo Karaman die Antworten in der Schwebe. Alles ist möglich – auch in der Frage, die an den Schluss zu stellen ist: Stirbt Miles, als er den Namen des Dämons hinausschreit und sich so von seinem Bann befreit? Bleibt sein Herz im Schock stehen? Oder erstickt ihn die vereinnahmende Liebe der Gouvernante, wie es das Finalbild der Inszenierung nahe legt? „Nur keine Lösungen“, wehrte der aus Gelsenkirchen stammende Regisseur in einem Interview ab. Nun, dieses Ziel erreicht er; den Zuschauer lässt er mit dem beklemmenden Gefühl nach Hause gehen, dass alles offen bleibt. Der Wunsch nach Wissen wird nicht erfüllt.

Wissen finden wir bei Wen-Pin Chien: Der Taiwanese, auch Dirigent von Henzes „Phaedra“ an der Rheinoper, kann mit der kammermusikalischen Partitur glänzend umgehen: Er zeigt, wie Britten die Motive verarbeitet, wie sich dasjenige der „Drehung der Schraube“ durch die Musik windet, wie die „Malo“-Rufe, die gespenstischen Quinten, die Tritonus-Leere verarbeitet und transformiert werden. Und er lässt den Solisten Raum, vor allem den Leitinstrumenten des Gespenstischen, der Celesta (Ville Enckelmann) und der aus der Idylle ins Chaotische fallenden Harfe (Jie Zhou).

Die beiden Kinder Miles und Flora, sind dank einer englischen Spezialagentur vorzüglich besetzt: Der zwölfjährige Harry Oakes, Mitglied des Trinity Boys Choir, füllt die Rolle des Miles musikalisch und sprachlich optimal aus, hat aber vor allem auch eine faszinierende Bühnenpräsenz: Vom verspielten Kind über den niedergedrückten Jungen bis zum aufreizenden, sein Alter weit hinter sich lassenden, sexuell anzüglichen Knaben zeigt er alle Facetten dieses vielschichtigen und daher so schwer darstellbaren Charakters. Für Eleanor Burke, schon erfahren in der Partie der Flora, ist es etwas einfacher, weil in Brittens Oper die hysterisch-aggressiven Züge verhaltener sind als in der Novelle oder gar in dem kongenialen Schwarz-Weiß-Film „The Innocents“ von Jack Clayton. Burke realisiert die introvertierten Züge des Mädchens und ihre innere Qual vor allem in der Szene mit der Puppe im ersten Akt.

Corby Welsh singt die faulig-süßlichen Verführungsphrasen des Quint mit lockerem Tenor; Marta Márquez bleibt als Mrs. Grose eher blass und passiv. Anke Krabbe gibt der Erscheinung der Miss Jessel nicht nur tragische, sondern auch katzenhaft gefährliche Züge. Als Governess hat Sylvia Hamvasi die passenden stimmlichen Farben für die erleichterte Freude bei der Ankunft auf Schloss Bly ebenso zu finden wie für die Panikattacken und die angekränkelte Zuneigung zu Miles. Hamvasi lässt ihren Sopran blühen, kann ihn aber auch in fahle Tönungen zurücknehmen.

Düsseldorf hat mit dieser Produktion – die 2007 in Leipzig erstmals zu sehen war – der Liste eindrucksvoller Inszenierungen der Oper einen gewichtigen Beitrag hinzugefügt und braucht sich weder vor der gelobten Kölner Premiere von 2011 von Benjamin Schad (Regie) und Raimund Laufen (Musikalische Leitung) zu verstecken noch vor Cristian Pades Psychothriller in Frankfurt mit Yuval Zorn am Pult.

Vorstellungen in Düsseldorf: 13., 20., 22., 26. Mai; 10. Juni.
Vorstellungen in Duisburg: 1., 6., 8. Juni.
Geplante Wiederaufnahme in Köln: 17. März 2013

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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