Beschwerlicher Aufstieg im Gebirge der Sprache – Wolf Redl inszeniert Ernst Barlachs Drama „Der Tote Tag“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. „Ich war geringer als ein Gott – und als der Gott vor dem Weibe stand – da war meine Menschlichkeit schuld, daß sie des Gottes wurde.“ – Das ist keine Sprache, die zur Theaterwirksamkeit drängt. Der gewundene Satz ist nicht untypisch für Ernst Barlachs Stück „Der Tote Tag“.

Bochums Theater riskiert eine Aufführung des Sprachgebirges, die erste an einer größeren Bühne seit vielen Jahren. Vielleicht sind solche Wagnisse ja dem Reiz vergleichbar, einen selten bezwungenen Achttausender zu besteigen. Doch die Luft da oben ist dünn.

Das Figureninventar wurzeit in Mythen und vorzeitlichen Archetypen: Mutter und Sohn; Vater als blinder „Seher“, Alb (Verkörperung der Alpträume), Pferd, Gnom („,Steißbart“), Hausgeist mit Wischer-Füßen („Besenbein“). Kern-Geschichte: Die erdhafte Mutter hält den Sohn im finsteren Haus zurück; der Vater – ferne Licht- und Göttergestalt – schickt ein Roß, mit dem der Sohn in die helle Freiheit des Geistes reiten soll, doch die Mutter ersticht das Tier und setzt es dem Sohn als Braten vor. Bevor der nun anbrechende „tote Tag“ zum endlosen Schuld-Martyrium wird, gesteht die Mutter die Tat und erdolcht sich. Der Sohn folgt ihr nach.

Barlach entwarf die Urform des Stücks, als er um das Sorgerecht für einen unehelichen Sohn stritt. Schicht um Schicht hat er über dem Vorgang eine Privat-Mythologie angehäuft; mit Anleihen aus Antike, nordischem Mythos, wohl auch aus christlicher Religion – und doch ganz „eigen“. Naiv-gottsucherische „Kinderfragen“ wechseln mit philosophischen wie sprachlichen Kraftakten. Passagenweise hat das düstere Macht, doch dann wieder schleppt es sich dahin, wirkt verquast und verzwirbelt.

Schattengestalten führen Gespenster-Gespräche

Schwer lastende, riesige Balken durchstreben die Bochumer Kammerspiel-Bühne, Dunkel und Dämmer umhüllen die Figuren, nur eine Tür führt ins Freie. Es ist wie im Innern der Erde oder wie in Platos Höhlengleichnis: Als sähen die Menschen nur die Schatten der Dinge, als seien sie selber Schattengestalten, die Genspenster-Gespräche führen.

Regisseur und Bühnenbildner Wolf Redl hat, sich offenbar an Barlachs Lithographien zu dem Stück orientierend, die Szene karg gelassen; von Akt zu Akt verschieben sich Balken und Treppen, verzieht sich die Perspektive – ein ins Irreale weisender Raum, passend für ein Denk- und Kopfdrama wie dieses. Redl läßt karg, tastend und behutsam, dabei wunderbar detailsicher und formbewußt in der Personenführung spielen. Dem Text werden keine Deutungen aufgepfropft, vor allem keine Verweise auf inzestuös-sexuelle Nebenbedeutungen.

Dennoch wird das Stück dem Theater nicht triumphal zurückgewonnen, man arbeitet sich an ihm ab. Von diesem Text können sich die Schauspieler nicht „tragen“ lassen, sie müssen gleichsam gegen ihn anspielen. Sie tun es mit allem Bemühen, suchen auch – mit wechselndem Erfolg – den Text zu gliedern, ihn überhaupt sprechfähig zu machen.

Hildegard Kuhlenberg (Mutter) verleiht ihrer Figur überdies eine interessante Brüchigkeit, sie verkörpert keine reine Furie oder Megäre, sondern spielt menschliche Not und Angst vor Einsamkeit immer mit. Ivo Dolder (Sohn), ansonsten passabel, neigt gelegentlich zum Nuscheln. Großartig Oliver Nägele (Alb), der auch mit dem Text am besten zurechtkommt.

Beflissener Beifall, in den sich zur Premiere weder Buhs noch Bravos mengten.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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