Mit Mathematik zum Mythos – Bilder von Johannes Itten im Essener Folkwang-Museum

Von Bernd Berke

Essen. Eine Komposition in doppelter Hinsicht: Das Bild „Der Bachsänger“ (1916) scheint – wie ein Musikstück des Meisters – aus Akkorden, Intervallen und Kontrapunkten gefügt zu sein; doch es erklingen hier nicht Töne, sondern Farben und Formen. Johannes Itten (1888-1967) hat, wie kaum ein anderer Künstler, seine Mittel systematisch, ja mit geradezu mathematischer Genauigkeit entwickelt.

Bis heute ist Itten vor allem als Kunstlehrer und Theoretiker bekannt. Daß er auch ein passionierter Künstler gewesen sei, will jetzt das Essener Folkwang-Museum mit einer Ausstellung ins Gedächtnis zurückrufen, die sich auf Ittens Jahre in Stuttgart, Wien und am Bauhaus in Weimar (insgesamt: 1913-23) konzentriert.

Nicht nur Gemälde und Zeichnungen sehen, sondern auch zahlreiche Tagebuchseiten und Briefe, aus denen die Genese von Ittens Farb- und Formtheorien ablesbar ist, so daß man sie gleich auf die Bilder beziehen kann. Ittens Beschäftigung mit (auch östlichen) Reiigionen, mit Goethes Farbenlehre oder den Theorien Rudolf Steiners fließt in die Bilder ein. Diese sind zwar keine „gemalten Theorien“, doch ohne den geistigen Hintergrund würde eine entscheidende Dimension fehlen.

Aufgrund seiner Farben- und Formenlehre wollte Itten zu einer „Objektivierung persönlicher Erlebnisse“ gelangen. Die Farb-Form-Mathematik sollte letztlich wieder der Individualität, ja sogar einer neuen Mythologie dienen. Aus solchen Ansätzen erwuchs ein ganzheitlich-lebensreformerisches Konzept, das Itten dem (unter Walter Gropius stärker auf Funktionalität ausgerichteten) Bauhaus entfremdete.

Jede Farbschattierung hat ihren eigenen Ausdruck

Jeder Farbschattierung schrieb Itten eine ganz bestimmte Gefühls- und Ausdrucksqualität zu, das Vokabular abstrakter Formen wurde so gleichsam „sprachfähig“. Durch bewußt konstruierte Strukturen dieser „Sprache“ ergaben sich auch enge Verwandtschaften zur Zwölftonmusik, mit deren Vertretern (Schönberg, Berg und Josef Matthias Hauer) Itten in Wien zusammentraf.

Am stärksten freilich beeindruckt Itten, wo er sich bildnerisch von der Theorielast befreit hat. Arbeiten wie die „Komposition aus zwei Formthemen“ (1917) atmen viel Theoriegeist und scheinen doch eher schematisch-experimentelle Durchführungen gedanklicher Vorgaben zu sein. So tauchen theoretisch ermittelte Farbgegensätze in verschiedenen Bildzonen auf, die einander mit einer Art von akribisch-wissenschaftlichem Interesse konstrastiert werden.

Mehr Ausdrucks-„Überschuß“ setzen hingegen Bilder wie „Der rote „Turm“ (1917/18) oder „Die Begegnung“ (1916) frei. Letzteres Bild, entstanden nach dem Tod einer Freundin, beschreibt einen Zustand zwischen Trennung und Festhalten-Wollen. Beispiel für ein sehr persönliches Erleben ist auch das frühe Hauptwerk „Barmherziger Samariter“ (1914/15), in dem Itten zu Beginn des Ersten Weltkriegs seinen Wunsch Gestalt annehmen ließ, den Leidenden beistehen zu können. (Bis 26.2., Katalog: 38 DM.)

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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