Beethoven nach dem Bombenhagel – Sasha Waltz choreographiert das Grauen des Krieges

Ensemble-Szene aus der „Beethoven 7″-Choreographie von Sasha Waltz. (Foto: © Sebastian Bolesch/Radialsystem)

Nebelschwaden empfangen das Publikum. Es wabert und wölkt, zischt und dampft aus allen Rohren. Mühsam schälen sich menschliche Silhouetten aus dem grauen Nichts: fremdartige Wesen mit riesigen Masken, die vielleicht von einem andern Stern oder aus den Abgründen unserer Fantasie kommen. Aliens des Bösen, die wie ferngesteuerte Kampfmaschinen wirken.

Manche tragen Brustpanzer, die an die Westen von Selbstmord-Attentätern erinnern. Sie verklumpen sich zu grotesken Körperskulpturen. Mit dem anschwellenden Bocks-Gesang ihrer ritualisierten Ekstase werden auch die zirpenden und zischenden Klänge immer lauter. Bässe wummern, Trommeln wirbeln, steigern sich zu einem Kakophonie der Katastrophe. Manche können den ohrenzerfetzenden Lärm und den Bombenhagel der atonalen Misstöne nicht mehr ertragen und verlassen fluchtartig den von musikalischem Krieg und tänzerischer Entgrenzung künstlerisch verminten Saal. Was tödliche Wirklichkeit für die von russischem Dauerbeschuss drangsalierten Menschen in der Ukraine ist, wird in der Choreographie von Sasha Waltz und der Musik von Diego Noguera zum ästhetischen Erlebnis, zum perfiden Schein. Muss das sein?

„Freiheit/Extasis“ nennt der in Chile geborene und seit Jahren in Berlin lebende Musiker Diego Noguera sein elektronisches Klang-Experiment, zu dem Sasha Waltz mit ihrem 13-köpfigen Ensemble vergeblich nach einem tänzerischen Ausdruck sucht: Viel Lärm und schweißtreibende Gymnastik um ein geschmackloses Nichts, das ohne Ohrenstöpsel kaum auszuhalten ist. Jetzt kann nur noch Beethoven helfen und uns aus dem Jammertal der musikalisch-tänzerischen Tränen befreien.

Für den Kultursender Arte hat Sasha Waltz 2021 in der antiken Tempelstätte von Delphi für zwei Sätze aus Beethovens 7. Sinfonie eine Choreographie entworfen, die den klanglichen Reichtum und die romantische Freiheits-Perspektive der mit rhythmischen Leitmotiven und mit hüpfenden, suggestiv-tänzelnden Elementen auftrumpfenden Komposition überzeugend einfing. Jetzt erweitert sie ihre szenische Beethoven-Weihe zu einem sinfonisch-tänzerischen Gottesdienst; zu einer Ton-Aufnahme unter Leitung von Teodor Currentzis schwebt und schreitet ihre Compagnie fröhlich und freiheitstrunken durch den vom Nebel des Krieges befreiten Raum im Berliner Radialsystem: „Beethoven 7“ feiert die Schönheit des Körpers und die Synchronität der Bewegungen. Arme werden gen Himmel gereckt, heiße Blicke ausgetauscht, Paare finden sich, Passenten schlendern vorbei, wagen ein ausgelassenes Tänzchen. Doch die zwischen französischer Revolution und europäischer Restauration eingeklemmte Welt, die den fast ertaubten Beethoven beim Komponieren 1811/12 umgab, ist fragil, der Frieden ein frommer Wunsch, die Freiheit ein schöner Schein.

In der Stille zwischen dem dritten und vierten Satz zerbricht die Idylle, verkantet sich ein einsamer Tänzer, reißt alle anderen mit sich in die Tiefe der Ungewissheit. Die harmonisch fließenden Bewegungen zerfasern, die Einigkeit der Liebenden löst sich auf. Nur schwer können die vereisten Körper ihre Erstarrung überwinden und der Fahne der Freiheit folgen, die von einer Tänzerin enthusiastisch geschwungen wird und den Weg in die Zukunft weist. Nach dem verkorksten Auftakt mit Noguera ist Beethoven die Rettung.

Sasha Waltz & Guests: „Beethoven 7“ und „Freiheit/Extasis“. Berlin, Radialsystem. Aufführungen wieder am 31. August sowie am 1., 2. und 3. September.

www.radialsystem.de

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 20 times, 1 visit(s) today
Dieser Beitrag wurde unter Tanz abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert