Wie ein Werk von Keith Haring fester Bestandteil in Pisas Stadtkultur wurde

Kleine Menschen vor einem gewaltigen Kunstwerk.

Kleine Menschen vor einem gewaltigen Kunstwerk.

Ich nahm Maß, nahm alle meine beschränkten Begabungsressourcen beisammen (so viele habe ich bei der Gabe des Fotografierens nicht) und nahm einen veritablen Keith Haring auf – in die Serie meiner Aufnahmen, die ich nach einem Besuch in Pisa heim brachte.

Und in diesem Moment nahm ich wieder einmal an, was mir vor vielen Jahren mein ehrlich bewunderter Lehrer Ewald Linka nahe brachte: die Gedanken von Walter Benjamin zum Thema „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. In unregelmäßigen Abständen werden diese in meinen persönlichen Gedanken immer wieder mal sehr handfest und regelrecht erspürbar. Denn die Aura, über die Benjamin schrieb, sie umgibt nur wenige Werke, denen ich in meinem bisherigen Leben begegnete.

„Tutto Mondo“ heißt das gewaltige Mauerbild, das überwältigend bunt und ebenso überwältigend detailreich die Giebelwand eines Wohnhauses im Schatten der „Chiesa di Sant‘ Antonio Abate“ in Pisa bedeckt. 1989 wurde dieses Kunstwerk in monatelanger Arbeit geschaffen. Keith Haring, dessen furioses Leben schon am 16. Februar 1990 enden sollte, dirigierte, inspirierte und koordinierte. Eine wachsende Zahl von Studentinnen und Studenten halfen dem stets freundlichen Meister. Viele von ihnen nächtigten nach ermüdender Tagesarbeit in der benachbarten Kirche. Von dort kam auch ein großer Teil des Caterings. Das klassische Pisa traf offen wie so häufig in seiner Geschichte auf eine neue Zeit – die Piazza dei Miracoli mit Dom und Schiefem Turm an dem meistbesuchten Punkt und Popart am entgegengesetzten Punkt der Innenstadt.

Ein junger Pisaner Student hatte kurz zuvor in New York einen Haring bestaunt und den ihm unbekannten Herrn neben ihm seine uneingeschränkte Bewunderung ausgedrückt. Es kam beim Richtigen an, denn der Herr war Haring in persona. Alsbald heckten der junge Pisaner und der schillernde Metropolenkünstler den Plan zu „Tutto Mondo“ aus. Und sie setzten ihn auch um, schnell und ungeduldig. Haring wusste längst um das enge Maß der Zeit, die ihm noch bleiben sollte. Pisas Behörden zeigten sich speditiv und kaum bürokratisch, was in Italien entgegen aller Vorurteile keineswegs normal ist. Pisas Bürger waren wie immer gastfreundlich und hilfsbereit. Und so gelang in einem wunderbaren Zusammenspiel aller Beteiligter Keith Harings letztes öffentliches Kunstwerk in einer Stadt, die eigenwillig solitär ist: uralt, hochmodern, tiefgläubig, tolerant-weltoffen, pisanisch eben.

Damit auch jedermensch weiß, dass hier alles authetisch ist, spendierte die Kommune ein Hinweisschild.

Damit auch jedermensch weiß, dass hier alles authetisch ist, spendierte die Kommune ein Hinweisschild.

Und so stolz die Pisaner auf ihre ruhmreiche Geschichte sind, so ebenbürtig bis überlegen sie sich Florentinern, Luccesern oder auch den weiter entfernten Römern fühlen, so stolz sind sie auch auf dieses einmalige Kunstwerk, das nicht nur in seinem unverwechselbaren Duktus ein veritabler Keith Haring ist, sondern auch seine ganz persönliche Botschaft offenbart: Mitten im oberen Bereich des Wandbildes zerschneidet eine riesige grüne Schere eine knallrote Schlange – und zuversichtlich kringelt sich aus den beiden Hälften des Tieres je eine der weltweit bekannten AIDS-Schleifen.

Der letzte öffentliche Haring prägt längst das Stadtbild, er stieg empor auf der endlosen Route der vielfältigen Stadtkultur, ist Sinnbild eines ebenso intellektuellen wie proletarischen Kondensationskernes in Italien: tolerant, weltoffen und unerschütterlich selbstbewusst. Diese freundliche Eigenschaft bekam einst auch Silvio Berlusconi zu spüren, als er – noch Staatsoberhaupt – in einem vornehmen und kulinarisch wertvollen Pisaner Restaurant mit seiner Entourage speisen wollte. „Wir bedauern, aber alle Plätze sind schon besetzt, riservato!“ So scholl es dem sprachlos dreinschauenden Möchtegern-Cäsar entgegen. Als der verdattert darauf hinwies, dass doch so viele Plätze frei seien, gab es die ultimative Antwort: „Scusi, aber die sind reserviert für Neger und andere!“ Wortlos verließ Berlusconi das Lokal, eilte über die Stadtgrenzen Pisas und sodann noch flotter hinaus aus der Toscana. Ab nach Rom.

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