Ein Ort kultureller Öffentlichkeit: Die Philharmonie Essen feierte Zehnjähriges

99 gold'ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

99 gold’ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

Vor 110 Jahren hat Richard Strauss höchstpersönlich den alten Essener Saalbau eröffnet. Mit einem neuen Stück, seiner „Sinfonia domestica“ als europäischer Erstaufführung. Vor zehn Jahren, am 5. Juni 2004, erklang das erste Konzert im neuen Saalbau unter Leitung von Stefan Soltesz. Auch jetzt spielte das heimische Orchester, dirigierte Tomáš Netopil die Strauss’sche Tondichtung. Und davor sein „Festliches Präludium für Orgel und großes Orchester“ aus dem Jahr 1913, als die Welt des alten Europa noch in Ordnung schien.

Beziehungsreicher hätte das Programm des Festkonzerts zum Zehnjährigen der Philharmonie Essen nicht zusammengestellt sein können. Es rückt den Saalbau und die Institution in den Blick, die ihn mit musikalischem Leben füllt. Es würdigt mit Richard Strauss einen der wichtigen Musik-Jubilare des Jahres 2014. Und es verweigert sich nicht der Zeitgenossenschaft. Dem selbstgewissen Dauerlärm von Richard Strauss` bombastischer Ouvertüre widersetzt sich ein sensibles, leises, suchendes Stück: Wolfgang Rihms „Verwandlung 6“. Geschrieben hat es der wohl bekannteste unter den deutschen Komponisten der Gegenwart im Auftrag der Philharmonie Essen. Und finanziert hat diese „Musik für Orchester“ die Ernst von Siemens Musikstiftung.

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Das muss erwähnt werden. Denn bei aller Festlaune im Saalbau: Das finanzielle Korsett sitzt knapp. Ohne die Stiftung als Sponsor hätte es wohl keinen Rihm zum Jubiläum gegeben. Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, bediente in seiner Rede nicht nur den berechtigten Stolz und die Zufriedenheit über das Erreichte. Sein Plädoyer für Einrichtungen wie die Philharmonie als Orte kultureller Öffentlichkeit verband er mit dem „Ausdruck echter Sorge“: Auch an einem Feiertag sei es unmöglich, von Bedrohungen kultureller Autonomie nicht zu sprechen.

Leggewie erhofft sich „eine Debatte über den Wert öffentlicher Kultur und kultureller Öffentlichkeit“. In Häusern der Kultur – Theatern, Philharmonien, Opernhäusern, Museen, Lichtspielhäusern – kommen Menschen ins Gespräch und reden sich bisweilen die Köpfe heiß. Es sind Orte, an denen sich gesellschaftliche Erfahrung verdichtet. An denen sich, wie im Theater im alten Griechenland, die Bürger ihrer selbst bewusst werden. Originalton Leggewie: „Glücklich ist das Land, das solche Ressourcen ererbt hat, pflegt und auf den neuesten Stand bringt, das Kultur nicht als Luxus oder Spektakel abtut, sondern als moralische Bildung ernst nimmt, Kinder und Jugendliche sehr früh einbezieht und sich bewusst ist, dass eine Gesellschaft ohne diese sinnstiftende, oft auch verstörende und aufrüttelnde Grundlage arm dran ist.“

Die Philharmonie im Saalbau zu Essen sei ein herausragendes Beispiel für einen solchen Ort bürgerlichen Gemeinsinns, der kulturelle Höhepunkte, soziale Geselligkeit und demokratischen Diskurs verbindet. „Der Saalbau hat Essen das urbane Flair einer Großstadt gegeben.“ Hannelore Kraft hat es gehört – die Ministerpräsidentin saß in der ersten Reihe –, OB Reinhard Paß auch.

Uraufführung zum Jubiläum "10 Jahre Philharmonie Essen". Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Uraufführung zum Jubiläum „10 Jahre Philharmonie Essen“. Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Noch weiter vorne, auf dem Podium, gaben die Essener Philharmoniker ihr Bestes, um dem eröffnenden Strauss-Schinken mehr als „kolossalen“ Festesglanz abzugewinnen. Das Gebräu, angesetzt durch Roland Maria Stangier mit bedeutungsschweren Orgelakkorden, verkocht zum Glück, bevor es gänzlich ungenießbar wird.

Anders die „Sinfonia domestica“, mit der vor 110 Jahren Richard Strauss persönlich den alten Saalbau eröffnet hatte. Das ungenierte Selbstporträt seiner Familie zeigt Strauss als Perfektionisten der Farben, als Zauberer einer kaum zu bremsenden Orchester-Virtuosität. Der ausgiebige Einsatz aller Instrumente gibt den Philharmonikern Raum, sich zu entfalten. Dazu feuert sie ihr Chef Tomáš Netopil mit Elan an. Trillernde Fanfaren des Blechs stürmen die heitere Ruhe der Familienidylle wie eine Horde tobender Kinder; Hörner und Trompeten spielen sich Echos zu; Flöte und Klarinette tanzen miteinander wie in einem Ländler. In solchen Momenten spiegelt die häusliche Sinfonie etwas von der geordneten, behaglichen Ruhe, auf die Strauss so bedacht war. Aber auch die burleske Bewegungsfreude kommt zum Zug, wie wir sie zum Beispiel aus „Till Eulenspiegel“ kennen. Fugen spielen Fangen; Holzbläser in hoher Lage erinnern an Gustav Mahlers verzerrten Volkslied-Ton. Und die Uhr, die auch im „Rosenkavalier“ schlägt, erinnert behutsam an den unerbittlichen Gang der Zeit.

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Wolfgang Rihm fordert das Orchester anders, weil das feine Gespinst seiner Klänge höchste Konzentration verlangt. „Verwandlung“ hat mit Stillstand und Fortgang von Zeit zu tun, wenn eine Rassel den ersten Rhythmus anklingen lässt, der sich bis zum Einsatz von vier Schlagzeugern steigert. Dazwischen tasten sich schüchtern-gebrochene melodische Motive durch die Stille, verbinden sich vorsichtig, wachsen zusammen und stützen sich gegenseitig. Wie Rihm das kreisförmige Schema des Stücks klangsinnlich neu füllt, hat nichts mit dem strotzend selbstsicheren Souveränität des Bayern zu tun: Der badische Meister aus Karlsruhe äußert sich nicht weniger selbstbewusst, aber er zeigt, wie er sich auch der Brüchigkeit seiner Welt stellt.

Die Feier in der Philharmonie hat viele Menschen aus der Essener Bürgerschaft versammelt, die sich des Wertes der Musik, der Bedeutung der Kultur für ein Gemeinwesen bewusst sind. Es wird sich zeigen, wie weit die Entschlossenheit reicht, wenn sich der finanzielle Horizont wieder verdüstert. Auch Hans Schippmann, scheidender Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie Essen, scheint da seine Zweifel zu haben, wenn er den Entscheidungsträgern mit geradezu flehenden Worten ans Herz legt, die Zukunft der TuP zu sichern. Essen wäre gut beraten, die Philharmonie als Zeichen kultureller Bewusstheit und gelingenden Strukturwandels auch künftig leuchten zu lassen.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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