Religiöse Extremisten in Münster: Meyerbeers Oper „Der Prophet“ ist bestürzend aktuell

Religion als Mittel zur Macht: Die drei Wiedertäufer (Rossen Krastev, Selcuk Hakan Tirasoglu und Matthias Stier) in  Meyerbeers "Le Prophete" am Staatstheater Braunschweig. Foto: Volker Beinhorn

Religion als Mittel zur Macht: Die drei Wiedertäufer (Rossen Krastev, Selcuk Hakan Tirasoglu und Matthias Stier) in Meyerbeers „Le Prophete“ am Staatstheater Braunschweig. Foto: Volker Beinhorn

Es ist kein Gesang demütiger Pilgrime, der uns mit dem Choral „Ad nos, ad salutarem undam“ entgegenschallt. Sondern die perfekte Tarnung einer politisierten Pseudo-Religion. In Giacomo Meyerbeers großer Oper „Le Prophète“ betten drei Wiedertäufer in die scheinbar fromme Weise ihren Aufruf zu Aufruhr, politischer Revolution, „heil’gem Streit“ und Mord ein.

Meyerbeer bricht mit dem gespenstischen Auftritt, begleitet von fahlen, tiefen Bläsern, die ländliche Idylle, die er mit den ersten Takten seiner Oper zeichnet: In dieser Welt herrscht kein arkadischer Friede, sondern Willkür und Tyrannei auf der einen, Fanatismus und Gewalt auf der anderen Seite.

In keiner anderen der für Paris geschaffenen großen Opern Meyerbeers zeigt sich das pessimistische Geschichtsbild des kosmopolitischen Juden aus Berlin so radikal wie in „Le Prophète“. Mit Bedacht haben Meyerbeer und seine Librettisten Eugène Scribe und Émile Deschamps wieder – nach „Les Huguenots“ von 1836 – ein Thema aus der Umbruchszeit der konfessionellen Kriege in Europa gewählt, diesmal die blutige, gewalttätige Episode der Wiedertäuferherrschaft im westfälischen Münster 1534/35. An dieser historischen Episode lässt sich beispielhaft darstellen, wie es funktioniert, Massen zu mobilisieren und zu fanatisieren.

Aber die Geschichte ermöglicht es Meyerbeer auch, in einer für die damalige Oper einzigartigen Tiefenschärfe einen ambivalenten Helden auf die Bühne zu bringen: den „Propheten“ Jean de Leyde als einen von seiner Mutter psychisch abhängigen, tief religiös geprägten jungen Mann. Durch die Willkür seines Dienstherrn erschüttert, wird er dem manipulativen Zugriff der Wiedertäufer zugänglich und zum fanatischen König gekrönt, der einer Shakespeare-Figur – oder einem modernen Selbstmordattentäter – gleich am Ende alles ins flammende Verderben reißt.

Meyerbeer hat in seiner Oper in faszinierender Weise Aspekte der Moderne erfasst: in der einzigartigen Verschränkung von Mutterkomplex und Machtwahn, im scharfsichtigen Blick auf die Psychologie der Masse und in den formalen Brüchen einer „filmischen“ Dramaturgie.

Der „Weltenbrand“ des Finales greift die einst schockierenden Katastrophenszenarien der französischen Oper auf, die schon Daniel Francois Esprit Auber in seiner revolutionären „Die Stumme von Portici“ eingesetzt hatte. Doch was dort überindividuelles Naturereignis war – der Ausbruch des Vesuv – wird bei Meyerbeer zu einer gleichnishaften Weltvernichtung, der Wagners „Götterdämmerungs“-Finale inspirierte.

Revolution im Zeichen radikalisierter und manipulativer Religon: Szene aus der Braunschweiger Inszenierung von  Meyerbeers "Der Prophet". Foto: Volker Beinhorn

Revolution im Zeichen radikalisierter und manipulativer Religon: Szene aus der Braunschweiger Inszenierung von Meyerbeers „Der Prophet“. Foto: Volker Beinhorn

Die modernen Aspekte des Konzepts von Meyerbeer und Scribe wollte Regisseur Stefan Otteni in der Braunschweiger Neuinszenierung des „Prophète“ – zeitlich passend zum kaum gewürdigten 150. Todestag des Komponisten – herausstellen. Bühne und Kostüme Anne Neusers meiden historistische Opulenz, geben lieber in konzentrierten Chiffren Hinweise auf die inneren Beweggründe der Handlung. Etwa wenn die Idylle, die Meyerbeer musikalisch beschreibt, als Bild auf die Bühne geschoben, zum distanzierenden Zitat gewandelt wird. Oder wenn der letzte Akt mit den im Kellergewölbe angehäuften Kreuzen an den „Berg der Kreuze“ im litauischen Siauliai erinnert.

Zuvor hatten die Menschen im wiedertäuferisch besetzten Münster diese Kreuze abgeben müssen: Da wird die Vielfalt individuellen Glaubens durch Uniformität abgelöst und in den „Untergrund“ verbannt, wo sie gleichwohl eine kritische Masse bildet.

Leider verzichtet Otteni dann auf den von Meyerbeer intendierten Untergang und wendet das Schicksal des Propheten ins Individuelle. Das entspricht seinem Konzept, die Oper als Albtraum eines zu Tode Verurteilten zu erzählen. Jean de Leyde endet auf einer kreuzförmigen Pritsche, auf der man ihm vermutlich die Giftspritze setzt. Das bricht den Charakter an einer entscheidenden Stelle: Otteni verurteilt seinen „Propheten“ zur Passivität des Träumers, während Meyerbeer ihm mit der Sprengung des Festsaales als letzter, verzweifelter, schaurig konsequenter Aktivität jenen Zug ins Abgründige gibt, der uns etwa auch an Hitlers monströsen Untergangs-Ideologien zutiefst erschreckt.

Otteni versucht, den ambivalenten Charakter der Titelfigur durch Verdoppelung zu verdeutlichen. Schon zu Beginn schaut ein Double Jeans voll Skepsis und Verwunderung auf sein schlafendes Alter Ego. Im komplexen vierten Akt geht die Rechnung auf: Der „geteilte“ Jean pendelt zwischen dem Griff nach der Krone und dem Auftritt als einfacher Mensch, zeigt sich von seinen Ambitionen zugleich fasziniert und gequält, bricht am Schluss in der Gloriole des religiös überhöhten Helden zusammen.

Jeans Mutter Fidès (Anne Schuldt) stört das sorgsam einstudierte Szenario der Krönungsfeier des Propheten (Arthur Shen), mit dem die Wiedertäufer auf die politisch-psychologische Manipulation der Massen abzielen. Foto: Volker Beinhorn

Jeans Mutter Fidès (Anne Schuldt) stört das sorgsam einstudierte Szenario der Krönungsfeier des Propheten (Arthur Shen), mit dem die Wiedertäufer auf die politisch-psychologische Manipulation der Massen abzielen. Foto: Volker Beinhorn

Auch eine der Schlüsselszenen der Oper gewinnt auf diese Weise Tiefenschärfe: Jeans Mutter Fidès stört das sorgsam einstudierte Szenario der Krönungsfeier, mit dem die Wiedertäufer auf die politisch-psychologische Manipulation der Massen abzielen: Sie erkennt in dem ferngerückten Prophet-König ihren Sohn; ein Moment menschlicher Unmittelbarkeit und Rührung, der den planmäßigen Aufbau des Images eines gottbegnadeten Retters empfindlich stört. In diesem Moment zeigt Otteni mit der verdoppelten Figur, wie Jean als Prophet die prekäre Situation eiskalt zu seinen Gunsten dreht, als Mensch aber, blutig gesteinigt, seelisch zugrunde geht.

Im zweiten Akt gelingt es dem Braunschweiger Team, die manipulative Absicht der Wiedertäufer in ein aussagekräftiges Bild zu bringen. Die drei Drahtzieher Jonas (Matthias Stier), Zacharie (Selçuk Hakan Tiraşoğlu) und Mathisen (Rossen Krastev) treten in Hemd und Krawatten wie Geschäftsleute auf, maskieren Jean als eine Johannes der Täufer-Figur, werfen sich vor einem Goldgrund in bunte Gewänder – und fertig ist das fromme Bild: ein Appell an die bekannten Klischees des Heiligen, mit dem die Menschen überwältigt werden sollen.

Dass Jean nach dieser Szene im Bademantel hinausgeführt wird – wie ein Darsteller nach Ende seines Auftritts in die Garderobe – unterstreicht das „Inszenierte“ noch. Es geht hier nicht um authentischen, wenn auch missbrauchten Glauben, sondern um den gezielten, zweckgerichteten Einsatz von Religion als politisches Machtinstrument: die Schmierenkomödie der Wiedertäufer.

Dass die Braunschweiger Inszenierung von „Le Prophète“ nicht restlos gelingt, liegt an einigen Szenen des – musikalisch von Georg Menskes und Johanna Motter solide einstudierten – Chores: Stefan Ottenis Versuch, naturalistische Szenen zu meiden, nimmt ihnen die Energie und den dynamischen Zug, der die Bewegung der Masse bedrohlich macht. Auch das Zitat der aufgehenden Sonne im dritten Akt – eine der sensationellen szenischen Effekte der Pariser Uraufführung – kann die Überwältigung von einst nicht einholen. Immer wieder wünscht man sich auch eine pointiertere Personenführung, die sich nicht nur auf die szenische Chiffre etwa eines Kostüms verlässt.

Szene aus dem letzten Akt mit Arthur Shen (Jean de Leyde) und Anne Schuldt (Fides). Foto: Volker Beinhorn

Szene aus dem letzten Akt mit Arthur Shen (Jean de Leyde) und Anne Schuldt (Fides). Foto: Volker Beinhorn

Der entscheidende Anteil der Musik – Meyerbeers Opern sind Gesamtkunstwerke im besten Sinn des Begriffs – wird von Georg Menskes‘ Dirigat nur zum Teil eingelöst. Im Braunschweiger Staatsorchester folgt auf höchst gelungene Details, etwa in den stark geforderten Bläsern, immer wieder Pauschales ohne klangliche Plastizität; sorgsam entwickelte Momente in der differenzierten Dynamik stehen neben flüchtiger Beiläufigkeit.

An die Sänger werden exorbitante Anforderungen gestellt, denen etwa Anne Schuldt als Fidès stimmlich wie szenisch bewundernswert gerecht wird. Der Name der Prophetenmutter ist Programm: Fidès steht für den Begriff eines kraftvollen, authentischen Glaubens – und die Braunschweiger Inszenierung rückt sie folgerichtig über die psychologische Funktion der „Übermutter“ in die Nähe der Schutz gewährenden und Hilfe bringenden Madonna.

Der komplexen Rolle des Jean bleibt Arthur Shen einiges schuldig: Dass er die Höhe zögernd und vorsichtig angeht, ist verständlich; dass er sie im Lauf des Abends immer angestrengter in eine trockene Enge treibt, deutet auf technische Probleme hin. Aber dass Shen seinen Text stellenweise so farblos vorträgt, als habe er gar nicht verstanden, wovon er singt, ist ein grundsätzliches Manko.

Mit Ekaterina Kudryavtseva hat Braunschweig für Jeans zur Blässe verdammte Geliebte Berthe eine koloraturgewandte Sängerin, deren schön timbrierte Stimme manchmal nicht ganz kontrolliert geführt wird. Orhan Yildiz singt die episodische, aber wichtige Rolle des Grafen Oberthal geschmeidig und klangsinnig; das Trio der Wiedertäufer würde gewinnen, wenn Rossen Krastev nicht auf krude orgelnde Potenz setzen würde. Ein besonderes Lob verdient der disziplinierte Kinderchor Tadeusz Nowakowskis.

Mit dieser Produktion hat Braunschweig erfolgreich ein bestürzend aktuelles Werk ins Blickfeld der Opernwelt zurückgeholt. Schon 1986 hatte John Dew in Bielefeld auf die Brisanz dieses Stoffes aufmerksam gemacht, die Hans Neuenfels 1998 in seiner missglückten – und folglich leider nur in einer Serie gespielten – Inszenierung in Wien so fatal verschenkt hat. Auch der Versuch des Theaters in Münster, sich 2004 Meyerbeers Werk zu nähern, blieb folgenlos.

Umso gespannter richtet sich der Blick nach Berlin, wo „Le Prophète“ in einer Reihe mit den anderen „Grand Opèras“ Meyerbeers auf die Bühne der Deutschen Oper kommen soll – die Premiere ist im Mai 2018 geplant. Und auch in Karlsruhe gibt es, wie zu lesen war, Überlegungen in Richtung Meyerbeer. „Le Prophète“ jedenfalls ist ein Werk, an dem sich wieder einmal bewahrheitet, wie die Zeitläufte vergessene Werke in präzise analysierende Kommentare zur Gegenwart verwandeln.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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