Der Triumph des Absurden: Bohuslav Martinůs „Julietta“ an der Oper Frankfurt

Der Dschungel als Bild für die undurchdringlich überwucherte Grenze von Sein und Schein. Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Neuinszenierung von Bohuslav Martinus "Julietta". Foto: Barbara Aumüller

Der Dschungel als Bild für die undurchdringlich überwucherte Grenze von Sein und Schein. Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Neuinszenierung von Bohuslav Martinus „Julietta“. Foto: Barbara Aumüller

Traum oder Realität? Erinnerung oder Fiktion? Tatsache oder Vorstellung? Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind, wenn man in eine Stadt kommt, in der alle Bewohner ihre Erinnerung verloren haben. In der Vergangenheit nicht existiert. In der Geschichte synthetisch wird, nicht zu unterscheiden von bloßer Erfindung oder gar verkaufter Erinnerung. Bohuslav Martinůs Oper „Juliette ou La Clé des songes“ greift im Gewand des Surrealen, des Traumes, ein erkenntnistheoretisches Problem auf, über das wohl schon jeder einmal nachgedacht hat.

Ist das, was wir sehen und erleben, eigentlich „real“? Oder spielt uns der „Lügengeist“ René Descartes‘ eine Realität vor, die der Wirklichkeit nicht entspricht? Ist unser Leben ein Traum in einem Traum, wie Edgar Allan Poe sinnierte? Für den Skeptiker Descartes war die untrügliche Wahrheit, die des Menschen Vernunft erst möglich macht, die Voraussetzung der menschlichen Freiheit. Und die Evidenz Gottes die Voraussetzung dafür, der eigenen Vernunft zu vertrauen und damit in die Lage zu kommen, defizitäre Systeme und die eigene Begrenztheit zu kritisieren. Doch unsere Weltsicht schwankt zwischen naiver Vergötterung der Empirie („Ich glaube nur, was ich sehe“) und ratloser Auflösung jeglicher Gewissheit. Im Zeitalter eines radikalen Skeptizismus sticht der Gottes-Trumpf nicht mehr.

Die Frage nach Fiktion oder Realität stellt sich mit neuer Schärfe, angefacht noch durch eine populäres Denken durchziehende Form der Dekonstruktion, die keinen (Erkenntnis-)Stein mehr auf dem anderen lassen will. Für Jacques Derrida waren selbst Tod und Leben nicht unabänderlich – aus der Dekonstruktion ihres Gegensatzes entsteht das Gespenstische als neues Modell des Werdens der Welt. Da kommen uns Romantik und Surrealismus Hand in Hand entgegen und grinsen uns an ob unserer verzweifelten Versuche, beständige Ordnungen in der Welt zu finden, die wir – als letzten Ausweg – vielleicht noch im Hedonismus, Narzissmus oder der universalen Geltung des Ökonomischen entdecken.

Plötzlich stößt eine vergessene Oper auf gesteigertes Interesse

Kein Wunder also, dass Martinůs 1938 uraufgeführte und danach für zwei Jahrzehnte verschwundene Oper plötzlich ins Zentrum des Interesses rückt. 1959, nach der Wiesbadener deutschen Erstaufführung, war die Zeit dafür noch nicht reif; auch 2002 blieb die vorzügliche Wiederentdeckung in Bregenz ohne nennenswertes Echo, obwohl die Produktion auch in Paris gezeigt wurde. Jetzt, auf einmal, explodieren die Neuinszenierungen: Bremen, Zürich, Frankfurt; in der nächsten Spielzeit verlässt gar Daniel Barenboim sein wagnerisches Elysium, um in Berlin für Martinůs Werk zum Taktstock zu greifen.

Den Menschen fehlt das Gedächtnis: Geschichte schrumpft für sie auf einen Augenblick; dennoch gieren sie nach Erinnerungen. Szene aus der Frankfurter "Julietta"-Inszenierung Florentine Kleppers. Foto: Barbara Aumüller

Den Menschen fehlt das Gedächtnis: Geschichte schrumpft für sie auf einen Augenblick; dennoch gieren sie nach Erinnerungen. Szene aus der Frankfurter „Julietta“-Inszenierung Florentine Kleppers. Foto: Barbara Aumüller

Offenbar fasziniert die feine Grenze zwischen Illusion und Realität, auf der „alles Reale fiktiv erscheint und alle Fiktionen die Gestalt von Realität haben“, wie Martinů im Vorwort seines Klavierauszugs zu „Julietta“ (1947) formuliert. Ein weiteres Beispiel dafür, dass lange vergessene Opern plötzlich unglaubliche aktuelle Relevanz erhalten und mit Macht ins Repertoire drängen. In ihrer Frankfurter Inszenierung spitzt Florentine Klepper diesen Gegensatz zu – nicht zuletzt mit Hilfe des grellen, aber irgendwie künstlich wirkenden Realismus der Bühne von Boris Kudlička und der Kostüme Adriane Westerbarkeys.

In einer Hotelhalle – Beherbergungsbetriebe und fünfziger Jahre scheinen momentan bei Bühnenbildnern hoch im Kurs – bewegt sich eine quirlig bunte Gesellschaft. Dem Buchhändler Michel, der in die „kleine Stadt am Meer“ hineinstolpert, fallen die merkwürdigen Kleinigkeiten zunächst ebenso wenig auf wie dem mit dem detailreichen Realismus der Figuren beschäftigten Betrachter. Erst als ein kleiner Araber (die quirlige Nina Tarandek) behauptet, das gesuchte Hotel „du Navigateur“ existiere überhaupt nicht, erst als ein Mann mit Hut bekräftigt, er besitze einen Dampfer und ihn als Modell in einer wassergefüllten Plastiktüte vorweist, dämmert die Erkenntnis, in dieser Stadt könne es nicht mit rechten Dingen zugehen.

Michel, auf der Suche nach einer jungen Frau mit einer bezaubernden Stimme namens Julietta, muss erkennen: Die Menschen können sich an nichts erinnern, was länger als zehn Minuten zurückliegt. Es ist der Beginn einer Serie skurriler Begegnungen und Situationen. Was nie geschehen scheint, wird wiedererkannt, was soeben geschehen scheint, ist vergessen. Michel gelingt es nicht, aus der realen Irrealität dieses Welt-Gespinstes zu entkommen: Ob der Schuss, den er auf Julietta abfeuert, getroffen hat, werden er und wir nie erfahren …

Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Erstaufführung von Bohuslav Martinus "Julietta". Foto: Barbara Aumüller

Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Erstaufführung von Bohuslav Martinus „Julietta“. Foto: Barbara Aumüller

Im dritten Akt finden wir einen Bürokraten am Amte, der Träume verwaltet und zuteilt. Aber Martinůs Libretto setzt noch eins drauf, zieht noch eine Ebene des Surrealen ein: Alle auftretenden Personen – ein vom Wilden Westen schwärmender Hotelboy, ein trauriger Obdachloser, ein begehrlicher Sträfling – sprechen von „Julietta“: Aus der einen Geliebten wird die Frau in vielen Facetten. Ihre Stimme aus der Ferne führt Michel wieder auf die Reise. Er entkommt, genau wie der Traumverwalter – Michael McCown als vertrocknetes Subjekt – vorhergesagt hat, der geschlossenen Anstalt der Träume nicht.

Während in der letzten Spielzeit in Bremen Johanna Pfau und John Fulljames von Anfang an eine unbehaglich surreale Atmosphäre präsent setzten und zunehmend verdichteten, spielen Klepper und Kudlička mit dem zum Schein mutierenden realistischen Sein. Was logisch und stringent wirkt, verkrümmt sich allmählich in die aufgehobene Logik einer bedrohlichen Welt jenseits selbstverständlicher Kausalgesetze.

Was anfangs nur skurril wirkt, wird beängstigend, spätestens, wenn auf einer zweiten Ebene der Bühne graue, gesichtslose Gestalten wie Schlafwandler unfasslichen Zielen entgegenschwanken. In dem Moment, in dem sich die adrette exotische Bepflanzung eines Lichthofs als Dschungel in die Halle hineinschiebt, bricht die Illusion von Realität endgültig im Licht ungeheuerer Verrückung.

Zwischen rezitierendem Deklamieren und arioser Entfaltung

Für die Darsteller ist „Julietta“ eine doppelte Herausforderung: Sie müssen szenisch die skurrile Aktion in naturalistischen Habitus kleiden, der im Detail ständig Elemente eines bizarren Traums streift. Und sie sind in Martinůs Musik mit einem Spektrum zwischen Sprechen, musikalischem Rezitieren, Sprechgesang und arioser Entfaltung konfrontiert. In diesen Momenten bewährt sich wieder einmal die Frankfurter Ensemblepflege: Beau Gibson, Boris Grappe, Andreas Bauer, Magnus Baldvinsson, Judita Nagyová, Marta Herman und Maria Pantiukhova aus dem Opernstudio füllen in mehreren Rollen selbst peripher auftauchende Gestalten mit intensiver Präsenz.

Kurt Streit in der fordernden Partie des Michel agiert szenisch zu steif, um die zunehmende Verstörung deutlich zu machen. Stimmlich ist Streits ausgezeichnete Artikulation hervorzuheben, im Klang bleibt der Tenor allerdings oft fest und grell. Juanita Lascarro konkretisiert sich als Julietta aus der Erinnerung zum idealtypischen Weib mit warm-verführerischem Ton, um zum Schluss nur noch als – von Vibrato gefährdete – Stimme verortbar zu sein.

Frankfurts GMD Sebastian Weigle. Foto Monika Rittershaus

Frankfurts GMD Sebastian Weigle. Foto Monika Rittershaus

Das Wunder von Frankfurt ereignet sich im Orchester: Sebastian Weigle poliert Martinůs vielgestaltige Partitur zu einem funkelnden Edelstein erlesenster Klänge. Dem Hörer geht es wie der Figuren auf der Bühne: Er meint sich ständig, an etwas zu erinnern, was im nächsten Moment verflogen ist: die süffige Melodik Puccinis oder die perkussiven, querständigen Akkorde Strawinskys, die schwebende Lyrik Debussys oder die schwerblütigen Knalleffekte Skrjabins, der freche Ton des Schlagers oder die Melancholie eines Akkordeon-Chansons. Böhmischer Glanz oder Reibungen á la Erik Satie, trockener Humor á la Darius Milhaud oder die exotische Raffinesse eines Vincent d’Indy – das alles amalgamiert Martinů in einem elaborierten Reichtum, dessen facettenreicher Klang unter den Händen Weigles im Frankfurter Orchester blüht und hämmert, schwärmt und tanzt, raunt und fließt.

Es gab viele großartige Abende mit Sebastian Weigle, von Wagner bis Humperdinck und Strauss, aber die makellose Martinů-Premiere ragt heraus. Ein Glück, dass man von der Produktion eine CD erwarten darf. Und ein Glück, dass Martinůs Oper mit diesem Frankfurter Ereignis – hoffentlich – endgültig im Repertoire angekommen ist. Jetzt wäre es angebracht, den Komponisten nicht nur über „Julietta“ und seine bekanntere „Griechische Passion“ – in der nächsten Spielzeit am Essener Aalto-Theater – zu definieren, sondern sich auf Entdeckungstour zu begeben. Tipp für Spielplan-Macher: Die Filmoper „Die drei Wünsche“, 2002 in Augsburg vorzüglich, aber folgenlos inszeniert, harrt einer Wieder-Entdeckung.

Aufführungen von „Julietta“ in dieser Spielzeit an der Oper Frankfurt noch am 8. und 13. Juli.

Im „Bockenheimer Depot“ sind gleichzeitig drei Einakter Martinůs zu sehen: „Messertränen“, „Zweimal Alexander“ und „Komödie auf der Brücke“. Termine am 6., 9., 10., 12., 15., 16. und 17. Juli.

Info: www.oper-frankfurt.de

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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