Das Absurde an der Straßenecke: Bohuslav Martinůs „Juliette“ in Bremen

Absurde Realität: Martinus "Juliette" in Bremen, Bühnenbild des ersten Akts (Johanna Pfau). Foto: Jörg Landsberg

Absurde Realität: Martinus „Juliette“ in Bremen, Bühnenbild des ersten Akts (Johanna Pfau). Foto: Jörg Landsberg

Ein Pariser Buchhändler reist in eine Kleinstadt am Meer, erkundigt sich nach einem Hotel, in dem er vor drei Jahren schon einmal abgestiegen ist. Damals hat ihn „das schönste Geschöpf der Erde“ fasziniert und er floh vor ihrer Anziehungskraft. Jetzt sucht er die Unbekannte wieder … Daraus könnte eine melodramatische Liebesgeschichte werden, doch der tschechische Komponist Bohuslav Martinů hatte in seiner Oper „Juliette“ anderes im Sinn.

Die Menschen, denen der reisende Michel begegnet, reagieren sonderbar: Sie können sich an nichts erinnern, was länger als zehn Minuten zurückliegt. Hinter der bühnenfüllenden Fassade eines alltäglichen französischen Hauses öffnet sich im Bremer Theater am Goetheplatz das Land des Surrealen, Unheimlichen. Es lugt hinter den Lamellen der Läden, es winkt aus den Fenstern: eine keifende Fischhändlerin, ein melancholischer Akkordeonspieler, ein schnarrender Kommissar. Und die faszinierende Frau, zunächst unsichtbar, nur durch ihr Lied präsent.

Das Treffen zwischen Michel und dem Objekt seines Begehrens an einer „Wegkreuzung“ könnte von Ionesco stammen, von Cocteau oder von dem tschechischen Schriftsteller Svatopluk Czech, dessen satirisch-surreale Novellen Leós Janáčeks „Die Ausflüge des Herrn Brouček“ zugrunde liegen. Die Bühne erweitert sich zu einem Geviert, Menschen in Frack und Zylinder hetzen steif über den Platz. Das dunstig-schummrige Licht Joachim Grindels schafft in Johanna Pfaus Bühnen-Architektur eine unwirkliche, schwebende Atmosphäre.

Aus den Türen ins Unbestimmte kommen skurrile Figuren: Ein Schankwirt mit mächtigen Epauletten auf dem Mantel, der sein Klavier nebst Hocker und Pianist hinter sich herzieht. Ein Mann auf einem dreirädrigen Veloziped, der wie ein dämonischer Marktschreier Erinnerungsfotos verstreut. Eine Handleserin, die wie ein Kastenteufelchen hinter dem Klavier aufspringt, mit weißen, langen Haaren wie eine Norn.

Jahrmarkt des Irrealen: Nadja Stefanoff als Juliette und Hyojong Kim als Michel in Martinus "Juliette" in Bremen. Links: Christian-Andreas Engelhardt als Erinnerungsverkäufer. Foto: Jörg Landsberg

Jahrmarkt des Irrealen: Nadja Stefanoff als Juliette und Hyojong Kim als Michel in Martinus „Juliette“ in Bremen. Links: Christian-Andreas Engelhardt als Erinnerungsverkäufer. Foto: Jörg Landsberg

Es sind Gestalten, die von René Magritte stammen könnten, oder aus dem unbehaglichen Alltag der Gemälde von Paul Delvaux. Manchmal erscheinen in leeren Fensterhöhlen flüchtige Projektionen (Videos: Ian William Galloway). Und das Spiel mit Vergessen und Erinnern, mit der scheinbar realen und einer – durch eine Lautsprecherstimme eingebrachten – mittelbaren Ebene schafft den Alpdruck eines Traumgespinstes, das uns entsetzt, weil mit der aufgehobenen Kausalität unsere Weltorientierung verfliegt; weil wir alles, mit dem wir rechnen, in einer teilnahmslos grotesken Welt als aufgelöst erleben. Auch der Text spielt mit surrealen Motiven: Was nie geschehen scheint, wird wiedererkannt, was soeben geschehen scheint, ist vergessen. Michel gelingt es nicht, aus der realen Irrealität dieses Welt-Gespinstes zu entkommen: Ob der Schuss, den er auf Juliette abfeuert, getroffen hat, werden er und wir nie erfahren …

Im dritten Akt in einem „Traumamt“ finden wir einen Bürokraten, der die Träume verwaltet und zuteilt – eines jener Motive, die sich in der tschechischen Literatur gerne finden. Aber Martinůs Libretto setzt noch eins drauf, zieht noch eine Ebene des Surrealen ein: Alle auftretenden Personen – ein vom Wilden Westen schwärmende Hotelboy, ein trauriger Mechaniker, ein begehrlicher Sträfling – sprechen von „Juliette“: Aus der einen, geliebten Juliette wird die Frau in vielen Facetten. Ihre Stimme aus der Ferne führt Michel wieder auf die Reise, wieder in eine Stadt am Meer: Vor der Fassade eines französischen Hauses fragt er nach dem Hotel …

Dem Regisseur John Fulljames ist hoch anzurechnen, dass er keinen zwanghaften Transfer versucht, sondern sich auf die Atmosphäre des Surrealen einlässt: Er will nicht mit Gewalt deuten, sondern setzt auf die Kraft der Bilder: Das sinistre Kabinett der Figuren agiert dabei mit der mathematischen Präzision, die wir aus surrealistischen Gemälden kennen. So folgt Fulljames der Vorlage der Oper, dem Drama „Juliette ou la clé des songes“ von Georges Neveux, und bewahrt das Uneindeutige und Unheimliche des Stoffs.

Bremen: Das Theater am Goetheplatz. Foto: Werner Häußner

Bremen: Das Theater am Goetheplatz. Foto: Werner Häußner

Fulljames, der vor allem in England und Frankreich arbeitet, hat in seiner zweiten Arbeit in Bremen auf das leise Verstörende in Martinůs surrealem Meisterwerk gesetzt und damit mehr Tiefe erschlossen, als es eine vordergründige Aktualisierung vermocht hätte. So kann sich die Bremer Inszenierung in der überschaubaren Reihe der „Juliette“-Produktionen der letzten Jahre (Bregenz, Paris, Genf) selbstbewusst behaupten. In Zürich und Frankfurt wird Martinůs Schlüsselwerk in der kommenden Spielzeit zu erleben sein: Man darf jetzt schon gespannt sein, welche Akzente die Regisseure Andreas Homoki und Florentine Klepper setzen werden.

Musikalisch muss sich die Bremer Aufführung ebenfalls nicht verstecken: Clemens Heil beschwört mit dem prächtig disponierten Orchester den lyrisch-schwebenden harmonischen Reichtum wie die perkussive Intensität oder die skurrilen Akzente in der elaborierten Partitur. Das tschechische Erbe Martinůs ist in einzelnen Wendungen hörbar, verdeckt aber den französischen Esprit der zwischen 1935 und 1937 entstandenen und 1938 in Prag uraufgeführten Oper nicht: Strawinskys brachiale Rhythmen lassen manchmal grüßen, Satie und Milhaud liefern den unsentimental-sachlichen Ton. Wenn im ersten Akt das „Quak-Quak“ einer mechanischen Ente auftaucht, fühlt man sich für einen Moment in Offenbachs groteske Operette „Die Insel Tulipatan“ ver-rückt.

Aber es gibt auch das lyrische Schweben, das schwer fassbare Funkeln apart gemischter Pianissimo-Klänge. Musikalisch ist „Juliette“ ein Meisterwerk, das sich hinter Martinůs bekanntester Oper „Griechische Passion“ nicht verstecken muss. Kein Wunder, dass ihm dieses Schmerzenskind, dem in der nazibesetzten Tschechoslowakei kein Überleben beschieden war, so sehr am Herzen lag.

Ausgefeilte Klangfarben – reaktionsschnelles Changieren

Das Bremer Sängerensemble ist in vielen nicht sehr umfangreichen Partien gefordert: Gefragt sind darstellerische Präzision und variable Expression – von der großbogigen Kantilene bis zum reaktionsschnellen Changieren zwischen Deklamation und rezitativischem Singen. Nadja Stefanoff als Juliette zeigt eine leuchtende Stimme, die ihre Stärke in den ausgefeilten Klangfarben hat. Hyojong Kim bringt die kindliche Ratlosigkeit, das irritierte Staunen, aber auch die aufbegehrende Hilflosigkeit des Michel mit einem präzise agierenden, scharf konturierten Tenor zum Ausdruck. Manche, wie Christian-Andreas Engelhardt als Kommissar, setzen zu einseitig auf Lautstärke, andere wie Tamara Klivadenko als „Alte“ treffen genau den richtigen, halb naturalistischen, halb stilisierten Tonfall. Eine Klasse für sich: Patrick Zielke als „Altvater ‚Jugend‘“.

Und wieder einmal wundert man sich, wie selig an vielen Opernhäusern die Aufmerksamkeit schlummert, eingelullt zwischen Wagner, Verdi, Mozart und Strauss. Zehn Jahre hat es gedauert, bis nach der denkwürdigen Bregenzer Inszenierung das Interesse an „Juliette“ erwacht ist. Unter uns sei gesagt: Es gibt noch weitere Opern von Martinů, die eine Aufführung lohnten, darunter die jetzt erst für Deutschland in Gießen entdeckte „Mirandolina“ oder die vor Jahren (2002) folgenlos in einer vorzüglichen Inszenierung in Augsburg vorgestellte Filmoper „Die drei Wünsche“. Dass auf solche Trouvaillen nicht geachtet wird, ist einfach absurd.

 

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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