Aufruhr in der Provinz: Das Jahr 1968 in Westfalen

„1968 in Westfalen“: Der Buchtitel lässt aufhorchen, stehen doch Sauer- und Münsterländer ebenso wie Bewohner von Bergmannssiedlungen im Revier nicht gerade in dem Ruf, Rebellionen anzuzetteln. Folglich müsste es doch eigentlich vor 50 Jahren ganz ruhig geblieben sein, als in Frankfurt, Hamburg, München und Berlin Studenten in Scharen mit der Parole „Unter den Talaren Muff aus 1000 Jahren“ auf die Straße gingen.

Der Historiker Thomas Großbölting von der Uni Münster betreibt in dem Band nun eine Spurensuche. Er will rekonstruieren, was das Jahr 68 im Westfalenland nun wirklich ausgemacht hat. Herausgekommen ist dabei weit mehr als eine simple Chronik von Ereignissen, sondern die prägnante und zugleich einordnende Darstellung eines Umbruchjahres mit seinen Folgewirkungen für die Provinz. Großbölting ist übrigens der Ansicht, dass Dortmund oder Münster seinerzeit eher Mittel- als Großstädte gewesen seien.

Vom kurzen und vom langen ’68

Auch in Westfalen riefen die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und des charismatischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke sowie die Massaker der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam massive Reaktionen hervor. Die Menschen versammelten sich in großer Zahl zu Gedenk- oder auch Gebetsstunden, auch kam es zu offenen Protesten gegen Rassismus, Diskriminierung und das militärische Vorgehen der USA in Indochina.

Nachdem Großbölting gleich zu Beginn seines Buches erklärt hat, 1968 könne nicht rein als Jahreszahl verstanden werden, sondern sei vielmehr Chiffre für Widerstand, Proteste und Revolte, geht er auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen jener Zeit ein. Dabei kommt er zu einer aufschlussreichen Unterscheidung. Der Wissenschaftler spricht von dem „kurzen“ und dem „langen“ 1968.

Er meint damit einerseits die eher ereignisorientierte Ebene. Die beginnt für ihn bereits am 2. Juni 1967 mit dem Tod von Benno Ohnesorg, den während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss. Diese Phase endet mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze Ende Mai 1968 im Bundestag – gegen alle Widerstände in der Bevölkerung.

Nachhaltige Veränderung der Gesellschaft

Andererseits – und das ist dann die Langversion – hat 1968 zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Nach Darstellung des Historikers sind „ökologisches Bewusstsein, Gleichstellung von Mann und Frau, die Akzeptanz verschiedener Formen von Sexualität, Friedensorientierung, Emanzipation und Partizipation“ heute nicht nur Teil des Mainstreams, sondern man definiere damit auch die „Loyalität zum System“.

An diesen Umwälzungen und speziell an dem „kurzen“ 1968 haben traditionelle Unistädte wie Münster mit den Studierenden ihren Anteil, aber ebenso die dazu im Vergleich noch sehr jungen Hochschulen in Ruhrgebiet. Dass es überhaupt zur Gründung der Unis in Dortmund, Bochum oder Bielefeld kam, steht im engen Zusammenhang mit dem Bildungsnotstand, der nicht nur in Deutschland, sondern in der damaligen westlichen Welt in Folge des Sputnik-Schocks ausgemacht wurde. Sputnik hieß der erste Satellit, den die Sowjetunion ins Weltall geschickt und damit im Westen Bedrohungsängste ausgelöst hatte. Mit der Forcierung von Bildung wollten nun die Industriestaaten im Wettlauf mit den Russen deutlich punkten.

Bildungsnotstand als Keim der Kritik

Bildungsnotstand und Kritik am Bildungssystem sollten allerdings auch zum Thema der Studierenden werden. Ihr Aufbegehren in Westfalen entsprang aber vor allem universitären Anlässen, wie beispielsweise in Bochum als Protest gegen eine geplante Univerfassung. Oftmals ging es allerdings auch um politischen Ereignissen, unter anderem bei der wohl größten Aktion in Münster mit über 2000 Beteiligten, die den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger bei einem Besuch der Stadt mit Sprechchören ob dessen Nazi-Vergangenheit empfingen.

Nun ist das Buch aber nicht nur lesenswert, weil es aufzeigt, dass auch Studierende in Westfalen es verstanden, auf die Straße zu gehen, sondern es beschreibt auch das gesamte Ausmaß von Aufruhr in Westfalen und darüber hinaus. Wenn man so will, blieb kaum eine gesellschaftliche Gruppe verschont, auch die Kirchen nicht. Beim Katholikentag in Essen gab‘s Debatten am laufenden Band und eine bis dahin kaum gekannte Heftigkeit der Kritik an den Kirchenoberen. Schüler und Lehrlinge machten Front gegen zu hohe Busfahrpreise, Jugendliche forderten mehr Jugendzentren. In Bochum oder auch in Münster machten Aktivistinnen von sich reden, die die traditionelle Rolle von Mann und Frau in Frage stellten und damit die Emanzipationsbewegungen nach vorne brachten.

Als Rudi Dutschke mit Johannes Rau diskutierte

Dass es in diesen stürmischen Zeiten auch Momente gab, die von Sachlichkeit geprägt waren, macht der Autor am Beispiel einer Debatte in der Wattenscheider Stadthalle deutlich. Im Februar 1968 diskutierte dort der damalige Fraktionschef der NRW-SPD (und spätere Bundespräsident) Johannes Rau mit Rudi Dutschke, der sich nach Meinung von Beobachtern nicht als radikaler Studentenführer präsentierte, sondern eher als „parteipolitischer Konkurrent der SPD“.

Wer nun wissen möchte, wo denn eigentlich der Protest seinen Ausgang nahm, den nimmt Großbölting mit auf einen Besuch in den USA Mitte der 60er Jahre, als Studierende sich für Redefreiheit auf dem Campus einsetzten, Woodstock zur Legende wurde, Schwule und Lesben, Native Americans sowie Vietnamkriegsgegner Demonstrationen organisierten. Apropos USA: Großbölting nutzt die letzten Zeilen des Buches, um eindringlich darauf hinzuweisen, dass die heutige Liberalität, die zweifellos 68 zuzuschreiben ist, keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Thomas Großbölting: „1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung“. Ardey Verlag, Münster. 172 Seiten, 13,90 €.

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3 Antworten zu Aufruhr in der Provinz: Das Jahr 1968 in Westfalen

  1. Dr. Bernd Dammann sagt:

    Sehr geehrter Herr Berke,
    der Ansatz und die Grundzüge meiner kritischen Bemerkungen, die ich als Ergänzung zu der bei Ihnen zuvor veröffentlichten Buchbesprechung verstanden habe und dankenswerterweise auf Ihrem Blog veröffentlichen durfte, waren dem Buchautor bereits zuvor bekannt. In einer an ihn adressierten Mail vom 26. Juli 2018 heißt es u.a.: ich „möchte Sie jetzt auf meinen nunmehr veröffentlichten Beitrag über die Studentenrevolte in den Philosophischen Fakultäten jener Jahre, also auch in Münster, am Beispiel des Faches Germanistik hinweisen. […..]. Ich will nicht verhehlen, dass mich vor allem Ihre schlecht recherchierten und ziemlich oberflächlichen Anmerkungen zur 68er Studentenrevolte in Münster („Schlacht um das Fürstenberghaus“) nachgerade animiert haben, selbst zur Feder zu greifen.“ Wichtig zu wissen ist dabei der vom Autor Großbölting eben nicht erwähnte Umstand, dass in jener Fakultätssitzung am 6. Juni 1969 zuvor die von dem Münsteraner Atlgermanisten Friedrich Ohly betriebene Habilitation eines seiner mediävistischen Schüler stattfand, ehe man zur Wahl eines neuen Dekans für das kommende Amtsjahr schritt. Der studentische Protest galt beiden Vorgängen gleichermaßen. – Meinen hier angesprochenen Beitrag kann man in der Ausgabe 7/18 der Internetzeitschrift literaturkritik.de nachlesen.
    Mit allerbesten Grüßen B.D.

  2. Bernd Berke sagt:

    Sehr geehrter Herr Dr. Dammann, vielen Dank für Ihren dezidierten Kommentar. Aber wie wäre es, wenn Sie Ihre Meinungsverschiedenheiten mit Herrn Prof. Großbölting (auch) auf direktem Wege klären würden? Wer weiß, ob daraus nicht sogar eine fruchtbare Debatte über 1968 in der westfälischen Provinz entstünde.

  3. Dr. Bernd Dammann sagt:

    1968 als Chiffre gesellschaftlichen Wandels in den 1960er und 1970er Jahren

    Das hier von Theo Körner besprochene Buch erschien als Band 1 einer neuen Reihe ‚REGIONALGESCHICHTE KOMPAKT‘ des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster. Sein Verfasser Thomas Großbölting gehört dem Geburtsjahrgang 1969 an. Aus diesen beiden Voraussetzungen erklärt sich die Herangehensweise und die Eigenart der vom Autor bevorzugten Darstellung.

    Er will in der gebotenen Kürze „Akteure, Formen und Nachwirkungen“ eines bestimmten Entwicklungsabschnitts der alten Bundesrepublik Deutschland prägnant nachzeichnen, die er als Zeitzeuge selbst nicht bewusst miterlebt hat, sondern zunächst einmal nur vom Hörensagen kennt. Folgerichtig „historisiert“ er seine zeitgeschichtliche Erzählung, ohne auf sich rückerinnernde Zeitzeugnisse von noch lebenden Beobachtern bzw. aktiv beteiligten Akteuren zurückzugreifen, wo es im Einzelfall wirklich nötig gewesen wäre (z.B. „Schlacht um das Fürstenberghaus).
    Er stützt sich stattdessen durchgängig einerseits auf thematisch einschlägige Veröffentlichungen der zeitgeschichtlichen Forschung, auf die er referierend Bezug nimmt, und macht zu den aus Westfalen dazu illustrativ ausgewählten Beispielen andererseits zugleich ausgiebig von Presseberichten und dem dazu veröffentlichten Bildmaterial als Grundlage seiner Darstellung Gebrauch. Die so vorgeführten Fallbeispiele wirken deswegen so, als seien sie zuerst und vor allem dem Umstand geschuldet, möglichst viele Regionen Westfalens in irgendeiner Weise zu erwähnen, wenn dazu nur irgendwie passendes Pressematerial zur Verfügung stand, auf das er sich beziehen konnte. Von welchem Stellenwert und Gewicht solche Einzelfälle (z.B. die Anti-Kiesinger-Demo in Münster) für die studentische Protestbewegung in der Universität hatten, in dem hier erwähnten Fall nämlich wirklich so gut wie überhaupt keine, bleibt durchweg ungeklärt. Auch dass in der einschlägigen Forschungsliteratur durchweg eine immerhin analytisch bedeutsame Unterscheidung zwischen der APO-Bewegung und der studentischen Hochschulrevolte der 68er Zeit vorgenommen wird, hat sich bis zu Großbölting offensichtlich noch nicht herumgesprochen.

    Großbölting forscht und lehrt an der Universität Münster. Seine kümmerliche Erwähnung und mehr als nur oberflächlich und verkürzt zu nennende Beschreibung der antiautoritären und basisdemokratischen Studentenrevolte in der Philosophischen Fakultät der WWU Münster ist ein schlechter Witz. Sie verrät immerhin, dass der Historiker Großbölting es offenbar nicht für nötig erachtet hat, wenigstens dazu im universitätseigenen Hochschularchiv einschlägige Quellen zu studieren. Aber wer kehrt schon gerne vor der eigenen Tür.

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