Das Rufen nach „Maman“ macht die Welt wieder heil: Die hellblaue Tapete strahlt unversehrt, die Dinge im Zimmer haben wieder ihren Platz gefunden. Zuvor ist das Kind in Maurice Ravels Einakter „L’Enfant et les sortilèges“ jedoch rebellisch ausgerastet: Der Zwang, sich an einem schönen Nachmittag zum Erledigen der Hausaufgaben zu disziplinieren, war einfach zu viel.
Die Reaktion ist eine Orgie der Aggression, deren Opfer – Sessel, Tapete, Märchenbuch, Katze, Libelle, Eichhörnchen – sich dann aber in einem Alptraum zur Wehr setzen. Erst ein Akt uneigennütziger Hilfe beendet das Toben der „Zauberdinge“.
In seiner Inszenierung an der Folkwang-Universität der Künste in Essen-Werden gibt Georg Rootering der gemeinhin als psychoanalytisches Entwicklungsstück betrachteten Oper einen politischen Akzent: In der Szene im Garten marschiert eine Truppe mit Schutzanzügen auf, die tierischen Freunde eines entzückenden Froschs (Puppe: Yvonne Dicketmüller) haben sich in Plastik verfangen. Die Folgen unserer infantilen Zerstörungslust, darauf weist der Regisseur behutsam hin, werden sich nicht beheben lassen, indem wir nach der Mama rufen.
Figurenreich und fantasievoll
Zwischen dem Trotz des Beginns und der Einsicht am Ende entfaltet der international zwischen Athen und Helsinki tätige Regisseur ein fantasievolles, bewegliches Spiel: Die Ausstattung von Lukas Noll und Sabet Regnery ermöglicht rasche Verwandlungen auch ohne Bühnentechnik: Chor und Ballett greifen unsichtbar zu und verschieben angeschrägte Wandelemente, die als Projektionsflächen für Farben und Bilder, aber auch mit schwarzglitzerndem Stoff als atmosphärischer Horizont dienen. Das sorgt für visuelle Abwechslung, fordert aber auch konzentriertes Reagieren – und die Studentinnen und Studenten der Folkwang-Uni bringen die Elemente mit präzisem Timing in Position. Kostüme und Masken (Andrea Köster) betonen das Fantastische, etwa in opulenten, leicht übersteigerten Tierkostümen.
Die figurenreiche Oper ist für eine Hochschulproduktion wie geschaffen, nicht nur wegen ihrer Kürze. Je nach dem Stadium der Ausbildung bietet sie für Gesangsstudenten herausfordernde oder nicht allzu schwere Partien, braucht auch schauspielerisches Agieren abseits herkömmlicher Opernszenen – etwa in den Darstellung von Gegenständen wie Sessel, Tasse oder Teekanne, bei denen Rootering sich der choreografischen Erfindungskraft von Ivan Strelkin und der Tanzstudenten der Hochschule versichert. So können sich etwa Jung In Ho als Feuer, Emily Dilewski als Prinzessin aus dem zerfledderten Märchenbuch, Nikos Striezel (alternierend mit dem herrlich breakdance-eckigen Ze Yan) als Uhr oder Robin Grunwald als Fauteuil szenisch erproben. Milena Haunhorst ist ein überzeugendes Kind, Alina Grzeschick eine gestrenge Mutter. Junge Sänger in verschiedenen Stadien der Ausbildung zeigen wie Vera Fiselier (Libelle) schönes Timbre und gestaltungsfähiges Material.
Spielfreudig und schwerelos
Xaver Poncette beleuchtet mit dem Orchester aus Studierenden der Folkwang-Hochschule alle Farben von Ravels Musik, das Gestische wie das Atmosphärische, die fein modellierten Soli wie die schwerelosen, impressionistisch anmutenden Klangflächen. Im zweiten Teil des Abends, Ravels „Spanischer Stunde“ spielt er mit den Taktwechseln wie mit den kammermusikalischen Finessen.
In der anspielungsreichen musikalischen Komödie zeigen die Gesangsstudenten animierte Spiellust, so Anna Cho als quirlige Concepcion, Anton Levykin als ihr scheinbar harmlos-spießiger Ehemann Torquemada, Robin Grunwald als maskuliner Ramiro und die beiden Liebhaber Benjamin Hoffmann (Gonzalvo) und Jisu Ahn (Don Inigo).
Weitere Vorstellungen noch am 10. und 12. Dezember, jeweils 19.30 Uhr in der Neuen Aula am Campus Essen-Werden der Folkwang-Universität. Info: www.folkwang-uni.de
Vielen Dank für den interessanten Artikel. Von Ravel kannte ich bislang nur den Bolero. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“ Friedrich Nietzsche – Schöne Grüsse aus Osnabrück