„New York – ein einziger großer Fluß voll Fusel“ – Henry Millers „Verrückte Lust“ nach über sechs Jahrzehnten erschienen

Von Bernd Berke

„Sein Blick verharrte auf Vanyas langem Gänsehals, der wie eine Leier bebte. So weich und glatt, ihr Hals. Weich wie Lamahaar.“ — Gänse, Leier, Lama? Da reitet einer geradezu auf den Sprachbildern, hierhin und dorthin.

Angenommen, es handelte sich um einen großen, der Sprache mächtigen Autor, läßt das Zitat auf zitternde Erregung schließen. Dieser Jemand heißt Henry Miller. Was nicht alle Tage vorkommt: Von dem 1980 gestorbenen Autor ist jetzt ein bislang nur dem Hörensagen nach bekannter Roman erstmals auf Deutsch erschienen. Ein frühes Werk, geschrieben im Jahre 1927, als der literarische „Spätstarter“ Miller aber auch schon 36 Jahre alt war.

Das Manuskript von „Verrückte Lust“ (Originaltitel sogar: „Crazy Cock“, also ein direkter Bezug aufs männliche Geschlechtsorgan) galt zunächst als verschollen und war dann über Jahrzehnte unbeachtet geblieben — bis man es 1991 in den USA edierte.

Die eingangs erwähnte Erregung ist nur zum Teil sexueller Natur. Überhaupt dürften Leute, die zu Millers Büchern der „Stellen“ wegen greifen, von diesem enttäuscht sein. Für seine Verhältnisse geradezu schamhaft, bricht der Urheber solcher Tabuknacker wie „Wendekreis des Steinbocks“ oder der „Sexus/Plexus/Nexus“-Trilogie, sogar seine Schilderungen unvermittelt ab, wenn sie dem Höhepunkt zustreben. Kein schlechter Kunstgriff, ist doch sein Thema auch die Unentschiedenheit des Begehrens.

Drei Menschen, im Grunde jeder für sich allein, unterwegs von nirgendwo nach nirgendwohin. Sie prallen aufeinander – fast wie vordem einsam kreisende Planeten bei einer Katastrophe im All. Unheilvoll sind sie alsbald ineinander verkeilt: Tony Bring, erfolgloser Schriftsteller, seine schöne Gefährtin Hildred und die geheimnisvolle, zwittrig wirkende Vanya. Sie alle brauchen und hassen einander. Beides zur gleichen Zeit. Und sie kommen nicht voneinander los.

Die Geschichte spielt im New Yorker Viertel Greenwich Village, das Miller als schmutzige Karikatur einer Bohème, als Filiale der „Großen Hure Babylon“ beschreibt: „New York war ein einziger großer Fluß voll Fusel.“ Und so treibt man sich denn auch hauptsachlich in übelsten Spelunken herum. In einer solchen arbeitet Hildred als Bedienung. Vor allem aber bestreitet sie ihren und Tonys Lebensunterhalt von Gefälligkeiten schmieriger Kavaliere, sprich: Sie prostituiert sich (was man aber nur in Andeutungen erfährt).

Zugleich entsteht zwischen Hildred und Vanya eine Beziehung, die einer lesbischen sehr ähnlich sieht. Tony schreit und tobt und will die ganze Wahrheit hören. Doch die quälende Ungewißheit bleibt, ja sie steigert sich zur Höllenqual. In einer seltsamen Höhle vegetiert das Trio mit- und gegeneinander dahin, einer Höhle, die die geradezu erschreckend-verschlingend kreative Vanya über und über mit ihren obszönen Kunstwerken ausgemalt hat. Eine geschlossene Anstalt, in die kaum einmal Tageslicht dringt: Irrsinn zu dritt, Schreie und Flüstern. Und wie etwa – gar nicht so gewagter Vergleich – bei Tschechows „Drei Schwestern“ das ferne Moskau zum erträumten, nie erreichten Inbild geglückten Lebens wird, so hier das noch fernere Paris.

Zwischendurch erwähnt Miller immer wieder den Lauf der Jahreszeiten, was dem Geschehen eine Art Naturnotwendigkeit verleiht. Zudem wirken die Figuren wie riesenhaft gemeißelt, unentrinnbar und überlebensgroß. Miller bezieht seine Bilder vornehmlich aus Religion und Biologie, aus Himmel und Blutbahn. Bisweilen schäumt seine Prosa auf zu atemlosen Aufzählungen, so als wolle er lauter starke Behauptungen hochtürmen. Befremdliches Großsprechertum. Sprache als Droge, vielleicht auch Sprache durch Drogen. Jedenfalls hat es bei der Lektüre streckenweise etwas Zermürbendes.

Ein recht unterschwelliges Geheimthema des Romans ist übrigens die Angst vor Begleiterscheinungen weiblicher Emanzipation. Fast moralinsauer bemerkt der Erzähler zum Beispiel, daß nun auch Frauen sich in Kneipen mit sexuellen Erlebnissen brüsten.

Noch mehr erschrickt man freilich über einen verborgenen Antisemitismus. Man stelle einmal alle Äußerungen zusammen, in denen hier von Juden die Rede ist – und wäge den Tonfall.

Vielleicht ist es ja so: Dem Eifersüchtigen, dem Verlassenen kommt alles beschmutzt und nichtig vor. Miller hat in „Verrückte Lust“, noch ziemlich roh bebauen und literarisch noch nicht auf später erstiegenen Höhen, die Niederungen seiner Ehe mit June Smith verarbeitet, die vorübergehend mit einer Lesbierin „durchbrannte“. Es war dies der größte anzunehmende Liebesunfall. Gegen einen männlichen Rivalen hätte er ja antreten können, aber wie denn gegen ein Weib kämpfen?

Henry Miller: „Verrückte Lust“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren. Goldmann-Verlag. 244 Seite und 12 Seiten Nachwort von Mary V. Dearborn. 36 DM.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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