Grass: Das Geschenk der Einheit vergeudet – Kritische Töne auf der Frankfurter Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Ein Hauptgeschäft bei der Buchmesse ist der Verkauf internationaler Nachdruck-Lizenzen. Wenn dieser Handel getan ist, beginnt ein womöglich noch schwierigeres „Geschäft“, das der Übersetzung.

Nicht jeder Autor kann sich gleich mit einem ganzen Kranz renommierter Dolmetscher umgeben wie Günter Grass, der sich gestern in Frankfurt mit einem Dutzend beinahe anonymer Sprachkünstler aufs Podium begab, die just seinen umstrittenen Bestseller „Unkenrufe“ in alle möglichen Idiome übertragen haben — von Katalanisch bis Türkisch, von Dänisch bis Polnisch. Welche Untiefen sich dabei auftun können, machte der polnische Übersetzer deutlich, der die Aufgabe hatte, gebrochenes Deutsch redende Polen sprachlich ins Polnische „hinüberzuretten“.

„Auschwitz immer mitdenken“

Einmütig stellten die Übersetzer fest, daß Grass‘ Roman mit seiner Kritik an deutschen Zuständen allerorts auf größere Zustimmung rechnen könne als eben in Deutschland. Damit war man bei einem Thema der Messe. Die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock und anderswo lassen manche schon um die internationale Attraktivität des Buchmesseplatzes Frankfurt bangen. Nicht von ungefähr hatte zur Eröffnung Außenminister Kinkel seinen Redetext spontan geändert und Abbitte geleistet.

Und Günter Grass, seinerzeit einer der lautesten Mahner vor der deutschen Einheit, bei der man „Auschwitz immer mitdenken“ müsse, fühlt sich jetzt natürlich bestätigt: „Aber ich bin alles andere als froh darüber.“ Seine schlimmsten Befürchtungen seien übertroffen worden, meinte Grass: .„Was wir mit dem Geschenk der Einheit gemacht haben, ist nur noch beschämend.“ Grass verteidigte das Asylrecht als „Kronjuwel unserer Verfassung“ und nannte gar den heutigen Verteidigungsminister Rühe einen „Skinhead mit Scheitel“, weil er das Thema Asyl unnötig „heiß geredet“ habe.

Noch mehr Elektronik in den Hallen

Beim Rundgang durch die Messehalle 6 (deutschsprachige Verlage) fällt sofort auf, daß erneut mehr Elektronik Einzug gehalten hat als im Vorjahr. Da ist es wirklich nur noch Vollzug, wenn – wie berichtet – dieser Art von „Literatur“ 1993 eine Halle eingeräumt wird. Den Reiseführer von morgen etwa tastet man mit der Computer-Maus ab. Dann zeigt er einem Landkarten und Fotos und erzählt einem mit Schrift, Ton und vielen bunten Bildern, was Y-Dorf und X-Stadt alles zu bieten haben. Wozu dann noch reisen, möchte man fast fragen.

Noch schlimmer kommt es dann in der sogenannten „Rationalisierungs-Schau“ des Buchhandels, die man glatt für einen Ableger der Computermesse „Cebit“ halten könnte. Der Elektronik-Konzern Philips hat dort eine regelrechte „Spielhölle“ eingerichtet, übrigens einer der bestbesuchten Stände der Messe.

Auf der Suche nach einem oder gar dem Trend wird man bei rund 101.000 Neuerscheinungen kaum fündig werden. Natürlich gibt es Saisonware wie etwa die Olympiabücher, doch im Grunde zeigt sich immer deutlicher, daß man schlichtweg alles zwischen zwei Buchdeckel bringen und es dann verkaufen kann, wenn nur das Marketing bis hin zur „Außenhaut“ (sprich Umschlag) des Buches stimmt. Gestaltung wird immer wichtiger, Inhalte kommen erst lange danach.

Nochmals zugenommen haben die langen Reihen der Verlage mit esoterischem Programm, die uns alle möglichen Ersatzgötter und Lebenshilfen andienen. Dagegen wirkt der Bezirk der „linken“ Verlage schon wie ein kleines Reservat.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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