Mit dem Messer der Leinwand die dritte Dimension eröffnen – Werkschau über Lucio Fontana in Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Aufs Neue mehrt die Kunsthalle Bielefeld ihren Ruf, ein Ort der „stillen Sensationen“ zu sein, den sie jüngst vor allem mit Ausstellungen der Zeichnungen Seurats und der „Todesthemen“ Picassos gefestigt hat. Diesmal widmet man einem weiteren wichtigen Neuerer der Moderne, Lucio Fontana (1899-1968), eine beachtliche Retrospektive (bis 23. 9. – Katalog und Beiheft 35 DM).

Ursprünglich sollte die Werkschau (über 120 Arbeiten) nur in München und Darmstadt präsentiert werden, doch unter sanftem Hinweis aufs eigene Renommee gelang es den Bielefeldern, die Zusammenstellung auch noch in ihr Haus zu lotsen. Wohl zum letzten Mal ergibt sich damit die Gelegenheit, Fontanas Oeuvre ohne konservierende Bildverglasung und somit möglichst unverfälscht zu betrachten.

Bekannt geworden ist der in Argentinien geborene Fontana, der meist in Mailand gelebt hat, durch seine Schlitz- und Perforationsbilder, die nach langen kunsttheoretischen Vorüberlegungen erst ab 1949 entstanden. Solche „Verletzungen“ der Leinwand mit dem Messer sollten – nachdem die Malerei jahrhundertelang und zunehmend geschickter den Raum perspektivisch vorgetäuscht hatte – den befreienden Weg zur einer wirklichen „dritten Dimension“ eröffnen und zugleich den Prozeß der Produktion sichtbar machen. Die Leinwand wird zum Relief, zur plastischen Form.

In Bielefeld legt man allerdings nicht nur auf diese Markenzeichen des Künstlers Wert. Vielmehr wird die ganze Ausdrucksbreite des Werks chronologisch aufgefächert, beginnend mit futuristisch inspirierten Arbeiten aus den 20er Jahren. Auch hat man eine verschollene, bislang nur auf Fotos dokumentierte Neon-Installation von 1951 rekonstruiert, die nun mit weit ausgreifenden Schwüngen den Deckenbereich des Museums bestimmt. Mit solchen „Raumkonzepten“ wurde der Sohn eines italienischen Bildhauers zum Vorläufer einer ganzen Reihe von Environment-Künstlern der 60er Jahre. Auch die deutsche „Zero“-Gruppe verdankte ihm Ende der 50er Jahre erklärtermaßen viel. Strukturen der „Nagelkunst“ Günter Ueckers etwa sind schon in den durchlöcherten Leinwänden Fontanas angelegt.

Viele Exponate bleiben rätselhaft, nähren aber die Vorstellungskraft des Betrachters ganz entschieden – so die Serie der fast zwei Meter hohen, durchlöcherten Ei-Formen mit dem Titel „Das Ende Gottes“ oder die Reihe der Venedig-Bilder, die trotz völliger Abstraktion die Atmosphäre einer Mondnacht oder eines Sonnentags hervorrufen.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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