Loslassen lernen – Bernhard Schlinks Roman „Das späte Leben“

Martin ist sechsundsiebzig und blickt auf eine erfolgreiche Karriere als Jurist und Uni-Professor zurück. Spät hat der notorische Junggesellen noch das kleine private Glück gefunden.

Warum sich die viel jüngere Ulla, eine lebenslustige Frau und Malerin abstrakter Bilder, mit denen Martin nichts anzufangen kann, sich für den verschlossenen Juristen entschieden hat, ist ihm ein Rätsel. Doch er genießt ihre Liebe und freut sich jeden Tag darauf, Sohn David in den Kindergarten zu bringen und nebenbei noch als Autor von juristischen Aufsätzen gefragt zu sein.

Es bleiben nur wenige Wochen

Doch von einer Sekunde auf die andere zerbricht die Idylle, sind alle Träume von einem geruhsamen Alter dahin. Die Diagnose seines Arztes lautet: Bauchspeicheldrüsen-Krebs im Endstadium. Was fängt er an mit den wenigen Wochen, die ihm bleiben? Wie verabschiedet er sich und was kann er hinterlassen? Wie wäre es, wenn er seinem Sohn zeigt, wie man nachhaltig kompostiert? Soll er beim Buchhändler eine größere Geldsumme hinterlegen, damit David sich jederzeit mit neuem Lesestoff versorgen kann? Und ist es nicht eine schöne Idee, einen langen Brief zum kurzen Abschied zu schreiben, in dem er seinem Sohn die Welt erklärt, über Gott und Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit, Leben und Tod philosophiert?

Unaufgeregtes Erzählen, nah am Klischee

Wie sein literarischer Wahlverwandter, so hat auch Bernhard Schlink eine juristische Karriere hinter sich: Uni-Professor, Richter am Verfassungsgericht in Nordrhein-Westfalen, Gutachter am Bundesverfassungsgericht. Irgendwann fing er an, Krimis zu schreiben und startete dann mit dem (auch erfolgreich verfilmten) Roman „Der Vorleser“ (1995) international durch. Seine Bücher haben eine Bestseller-Garantie, das dürfte auch für seinen neuen Roman „Das späte Leben“ gelten. Bei Schlink weiß jeder, was er bekommt: unaufgeregtes, klassisches Erzählen, sympathische Figuren mit kleinen Macken und Marotten, eine Handlung, die ganz leicht am Klischee vorbei schrammt, mit Pathos ins Menschlich-Allzumenschliche driftet, nach einigen Wendungen zu einem harmonischen Ende findet.

Martin muss noch viel lernen, bevor er mit sich im Reinen ist und sich aufs Sterbebett legen darf. Dass er glaubt, noch als Toter die Zukunft seines Sohnes mitbestimmen zu können, indem er ihm Aufgaben und Briefe hinterlässt, geht seiner Frau gehörig auf die Nerven: „Deine Hand, deine Gedanken, dein Brief, deine Bücher, dein Kompost – alles dein. So kann es nicht bleiben. David muss dich loslassen, er muss sich finden – und mich. Warum machst du es mir so schwer? Es macht mir Angst.“

Auf sanfte Weise übergriffig

Klar, dass Martin Läuterung verspricht und Ulla schließlich besänftigen kann. Nett, dass er seiner Gattin einen Seitensprung verzeiht, den Liebhaber aufsucht und ihn bittet, sich nach seinem Tod um Ulla und David zu kümmern und gut zu ihnen zu sein. Aber ist das nicht auch schon wieder etwas übergriffig? Auch dass er, ohne seine Frau einzuweihen, eine Detektei beauftragt, nach ihrem verschollenen Vater zu suchen, hätte er wohl besser mit ihr absprechen müssen. Aber alles nicht so schlimm. Die Liebe heilt alle Wunden. Sterben heißt: Frieden schließen. Das ist zwar ziemlich kitschig, aber auch irgendwie tröstlich.

Bernhard Schlink: „Das späte Leben“. Roman. Diogenes. Zürich 2023, 240 Seiten, 26 Euro.

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