Denn sie wissen genau, was sie tun: Am Theater Mülheim entwickelten Jugendliche ein Stück über Amokläufer

SAART. Auf diese deprimierend knappe Formel bringt das Mädchen mit den blonden Haaren den Ablauf eines ganzen Menschenlebens: Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod. Soll das denn wirklich alles sein? So fragt das Mädchen sich und uns, die wir nach Mülheim gekommen sind, um eine Produktion des Jungen Theaters an der Ruhr zu sehen.

Bitte lächeln: Dalia Othmann, Lisa Babies, Rosa Altmiks, Luca Engels, Helen Schmitt und David Czyborra (v.l.) in dem selbst entwickelten Stück „Wenn das die Zukunft ist“ (Foto: Mirko Polo)

Im renommierten Haus an der Akazienallee hat eine jugendliche Gruppe namens „Die Unruhestifter“ ein halbes Jahr gearbeitet, um ein Stück über ein Thema zu entwickeln, das längst nicht mehr als rein amerikanisches Problem abgetan werden kann. Es geht um Amokläufe an Schulen, wie sie in Winnenden, Erfurt und Emsdetten geschehen sind – und leider nicht nur dort.

Unter Anleitung der Theaterpädagogin Katja Fischer entstand eine etwa 90 Minuten lange Produktion mit dem vielsagenden Titel „Wenn das die Zukunft ist“. Es handelt sich dabei um eine lose Abfolge von Szenen, die Schlaglichter auf die Gründe, Begleiterscheinungen und Konsequenzen solcher Gewaltexzesse werfen. Zusammen gehalten werden sie von Zwischenspielen, in denen Musik von Marilyn Manson, Pete Doherty und vielen anderen in den Vordergrund tritt.

Für manche ist Schule die pure Langeweile. Für andere ist sie die Hölle. (Foto: Mirko Polo)

Naturgemäß steht der „Tatort Schule“ im Mittelpunkt. Es ist beklemmend, den 14- und 15-jährigen Darstellern dabei zuzusehen, wie sie Schüler ihres Alters spielen. Wie sie die Mechanismen von Macht und Ohnmacht im Klassenzimmer sichtbar machen. Wie sie die kleinen und großen Gemeinheiten auf dem Pausenhof nachstellen, wo manch derber Spaß unversehens in echte Grausamkeit umschlägt. Wo die Demütigung von Wehrlosen erst mit dem Handy gefilmt und dann über die so genannten „sozialen Medien“ verbreitet wird, einer virtuellen Meute zum Spektakel.

Die Stärke dieses Abends liegt darin, dass „Die Unruhestifter“ nicht nach einfachen Antworten suchen. Treffgenau stellen sie zunächst die Rituale bloß, die nach jedem Amoklauf unweigerlich einsetzen: das routinierte Berichten der Medien, die TV-Talkrunden mit eiligst herbei gerufenen Experten, der Ruf nach strengeren Gesetzen, das Verteufeln martialischer Computerspiele, das Ausfragen von Nachbarn und Verwandten, die am Tatort abgelegten Blumen. Darüber hinaus trifft ihr Finger in manche Wunde. Sie zeigen überforderte Lehrer, die kaum mehr gegen das respektlose Verhalten im Klassenzimmer ankommen. Sie spielen ein Elternpaar, das die Frage, ob ihr Sohn Freunde hatte, schlicht nicht beantworten kann. Vor allem aber zeigen sie eine (Schul-)Welt, in der kein Pardon gegeben wird. In der Rücksichtnahme und Mitgefühl Fremdwörter sind.

Trumps Traum? Lisa Babies spielt eine Lehrerin, die bewaffnet vor ihre Klasse tritt (Foto: Mirko Polo)

Dass fortlaufend erlittenes Unrecht Rachephantasien erzeugen kann, wissen wir spätestens seit der Seeräuber-Jenny aus Bert Brechts „Dreigroschenoper“. Wie groß oder klein aber ist der Schritt zur Tat? Das versuchen die sechs Jugendlichen in Mülheim zu ermessen. Symbol für die langsam wachsenden Hassgefühle ist eine Jacke in militärischen Tarnfarben. Jeder der Darsteller wird sie an diesem Abend mindestens einmal überstreifen und über das sprechen, was ihn (oder sie) so hoffnungslos und wütend macht.

Unter der erschreckenden Vielzahl von Gründen berühren einige besonders schmerzlich. Die tief verankerte Überzeugung von der eigenen Wert- und Chancenlosigkeit zum Beispiel und die zunehmend verzweifelten Versuche, einen authentischen Weg durch diese komplexe, häufig ungerechte Welt zu finden.

Es ist erstaunlich, wie glaubwürdig die jungen Darsteller dabei wirken: die zierlichen Mädchen Rosa Altmiks und Dalia Othmann ebenso wie die energisch wirkende Luca Engels, die hoch aufgeschossene Lisa Babies gleichermaßen wie die blonde, etwas kleinere Helen Schmitt. Heranwachsende, die sich in einem wilden, von Stroboskoplicht durchzuckten Zwischenspiel plötzlich in Posen der Wut und der Abwehr werfen, die ihre Lebenslust in einen Frust umschlagen lassen, den ihre Körper zu aggressiver Rockmusik in die Welt hinausschreien (Bühne und Licht: Bekim Aliji).

David Czyborra trägt Auszüge aus dem Tagebuch eines Täters vor. (Foto: Mirko Polo)

Und dann ist da noch der 14-Jährige David Czyborra, der dem Stück mit einem erschütternden Monolog eine Klammer gibt. Die Tarnjacke um die Schultern, ein (Plastik-) Gewehr auf den Knien, zitiert er zu Beginn und am Ende Passagen aus dem Tagebuch eines realen Amokläufers. Er spricht leise, sein Gesicht ist blass, als er vorträgt, wie der jugendliche Todesschütze sich schriftlich entschuldigt: bei seinen Eltern, bei seinen Geschwistern und bei allen, die „wenigstens einmal nett“ zu ihm waren. „Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.“

(Das Stück steht vorerst nicht mehr auf dem Spielplan, Schulvorstellungen können jedoch gebucht werden.

Kontakt: Katja.Fischer@theater-an-der-ruhr.de Tel. 0208 / 59901-34).

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