Selbstgerechte Kälte: Carlisle Floyds Oper „Susannah“ in Hagen

Es gibt Alpträume, von denen man nie glaubt, sie könnten einem in der Wirklichkeit wieder begegnen. Carlisle Floyd hat in seiner Oper „Susannah“ einen solchen komponiert: realistisch, hart, unverstellt. Es ist kein Traum der Sorte, bei der die Fiktion sofort erkennbar wäre. Keine Monster, keine Chimären. Sondern Menschen, denen wir jeden Tag im Supermarkt oder Bistro begegnen. Vier ältere Damen, die sich angeregt unterhalten. Ein Dorffest.

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Und eine Katastrophe, ausgelöst von einem Skandal, der keiner ist: In einem Dorf, irgendwo im amerikanischen „Bible belt“, irgendwann in den fünfziger Jahren. Eine „Erweckungszeremonie“ soll gefeiert werden. Der Wanderprediger ist bereits eingetroffen, fehlt noch ein geeigneter Ort: ein Taufbach. Drei Dorfälteste machen sich auf den Weg, entdecken die ideale Stelle – doch dort finden sie Susannah, ein Mädchen, das am Rande des Dorfes lebt – und das nicht nur im geografischen Sinn. Sie badet nackt im Bach, wähnt sich unbeobachtet.

Am Abend weiß das ganze Dorf von der „unerhörten“ Szene – außer Susannah. Und dann greift der Mechanismus, der Menschen zu Sündern und zu Opfern macht. Das Dorf spielt sich zur moralischen Instanz auf, zum Rächer. Und das vermeintlich schuldige Opfer wird zum Freiwild: Verleumdungen, sexuelle Unterstellungen, schließlich eine Vergewaltigung. Selbst als Susannahs Schuldlosigkeit feststeht, wird ihr nicht verziehen. Wer einmal als sündig gilt, bleibt es.

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Carlisle Floyd, erfolgreichster amerikanischer Komponist der Gegenwart, hat sein Werk in der McCarthy-Ära in den USA geschrieben und 1955 uraufgeführt. „Susannah“ ist – nach Gershwins „Porgy and Bess“ – die am meisten gespielte amerikanische Oper überhaupt. In Deutschland konnte sie nie Fuß fassen. Zu „konservativ“ klingt die tonal orientierte Komposition Floyds. Zu viel Puccini, zu wenig Boulez. Die Darmstädter Schule hatte für solche Seichtigkeiten aus dem unterentwickelten Opernland von jenseits des Teiches nur Verachtung und Polemik übrig.

Heute kümmern die Urteile von damals nicht mehr – dennoch fördern die verkalkten Blutbahnen des Theaterbetriebs Werke wie Susannah nur selten in die Nähe eines Herzens, das sich ihrer annimmt. Das Theater Hagen, innovativ wie kaum ein anderes dieser Größe und dennoch ständig um seine Existenz bangend, hat mit Floyds heute wieder beklemmend aktuellem Werk seine verdienstvolle Serie amerikanischer Opern fortgesetzt, in der man sich zum Beispiel an eine packende Aufführung von „Endstation Sehnsucht“ von André Previn erinnert.

Aktuell ist „Susannah“, weil die Spielarten einer bigotten Religiosität nie aussterben. Das Christentum, wie Floyd es in unverkennbarer Anlehnung an die alttestamentliche Geschichte der Susanna im Bade schildert, hat viel mit der selbstgefälligen Moral einer puritanischen Gesellschaft zu tun. Und wenig mit der biblischen Botschaft, die Einsicht, Umkehr und Barmherzigkeit in ihrem Zentrum trägt.

In Hagen erzählt Regisseur Roman Hovenbitzer mätzchenfrei in prägnanten, knappen Szenen. Die Ausstattung von Jan Bammes arbeitet mit Palettenholz und einem Podium, das sich zur Wand, zum Dach, zum Zaun verwandeln lässt – aber auch zur metaphysischen Schranke zur vernagelten Welt des Dorfes. Mit dem Licht, das durch die Ritzen fällt (Ulrich Schneider), ergeben sich ästhetisch reizvolle, aber stets inhaltlich abgesicherte Licht- und Schatten-Stimmungen.

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Die in den Untergrund verbannten sexuellen Begehrlichkeiten zeigt Hovenbitzer in verstohlenen Andeutungen, psychologisch schlüssig beobachtet: Susannah erzählt von Natur und Sternen, und der verklemmte „Little Bat“ McLean reibt sich das Glied. Bevor sich der Prediger Olin Blitch über die wehrlose Susannah hermacht, faltet er ihren Rock ordentlich und hängt ihn auf: Auch angesichts der monströsen Tat bleibt der Kodex der Wohlanständigkeit gültig. Das Ende schärft der Regisseur mit einer Anleihe an Lars von Triers religiös geladenem Film „Dogville“, der eine ähnliche Problematik behandelt. Es erinnert auch ein wenig an Brittens „Peter Grimes“: Der Mob marschiert, legt einen Brand. Vergebung gibt es keine, Einsicht schon gar nicht.

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Im Orchester lässt Bernhard Steiner die Anleihen aufblitzen, mit denen Floyd seine Musik inhaltlich auflädt: Der hymnische Stil alter angelsächsischer Kirchenlieder ist zu hören, amerikanischer Squaredance, verträumte Anklänge an Country Music. Und immer wieder große Crescendi, liebevoll ausgebreitete Melodiebögen. Bei Floyds konservativer Harmonik darf man nicht an Werke wie Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ oder selbst Janaceks „Jenufa“ denken. Eher an die US-Film-Melodramen der vierziger Jahre.

Das Hagener Orchester ist an einigen Stellen überfordert: der Klang wirkt seifig, Einsätze klappen nicht, voller Klang bläht sich dicksuppig auf. Der Chor, von Wolfgang Müller-Salow einstudiert, bringt den bedrohlichen Ton der Masse eindrucksvoll ins Spiel.

Jaclyn Bermudez ist Susannah: eine Darstellerin, die dem Mädchen erst die unbekümmert ausgelassenen Züge gibt, dann die Unschuld einer schwärmerisch sich nach einem Hauch von Glück sehnenden Seele, später aber auch die Entschlossenheit, sich nicht zur „Sünderin“ abstempeln zu lassen. Auf das schäbige Spiel des Dorfes lässt sie sich nicht ein. Dazu passt ihr Sopran, der zärtlich lyrisch, aber auch schneidend prägnant klingen kann.

Rainer Zaun als Olin Blitch kann die unerbittlich ideologischen Seiten des Predigers ausdrücken, aber auch die inneren Qualen eines unendlich einsamen Mannes und seine Ohnmacht, als er erkennt, dass er die Lawine, die er losgetreten hat, nicht mehr bändigen kann. Dieser Blitch ist nicht als purer Bösewicht, sondern als glaubwürdiger, in sich gespaltener Charakter gezeichnet.

Wie destruktiv sich die verleugnete, verschwiegene, unterdrückte Sexualität in dieser Gesellschaft auswirkt, zeigt Jeffery Krueger als Little Bat exemplarisch: Er würde gerne, aber er traut sich nicht, kann sich nicht aus der moralischen Umklammerung der Autoritäten befreien. Aus lauter Angst wird er  zum Lügner. Krueger wäre glaubwürdiger, würde er nicht hysterisch überagieren – auch seinem Tenor bekommt das Übertreiben nicht.

Auch bei Sam Polk, Susannahs Bruder, grinst die Einsamkeit hinter der Fassade des starken Kerls hervor: Charles Reid zeigt den jähzornigen Alkoholiker als im Grunde zutiefst resignierten, an seinem Schicksal zerschellten Sonderling. Carlisle Floyds Oper moralisiert ihrerseits nicht, sondern zeigt die Menschen in den knappen, psychologisch beredten Szenen in all ihrer Komplexität als Täter und als Opfer. Unbedingt sehenswert!

Die nächsten Vorstellungen: 11. Mai, 10., 14., 17. und 24. Juni.
Tickets: (0 23 31) 207 32 18.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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