Rhetorik ist mehr als nur Wortgeklingel – Zum 70. Geburtstag von Walter Jens

Zur alten Feuilleton-Zeit galt die Theaterkritik alles, die Fernsehkritik fast nichts. Das hat sich geändert. Maßstäbe für die TV-Renzension als achtbares Genre hat als einer der ersten Professor Walter Jens gesetzt, der viele Jahre lang in der Wochenzeitung „Die Zeit“ (unter dem Pseudonym „Momos“) das Bildschirmgeschehen kritisch begleitete. Es ist nicht das geringste Verdienst des Mannes, der heute 70 Jahre alt wird.

In seiner Wahlheimatstadt Tübingen hatte der Sohn eines Hamburger Bankiers bis 1988 den Lehrstuhl für Rhetorik inne. Das Wort „Rhetorik“ hat hierzulande einen schlechten Klang. Man argwöhnt, es gehe nur um schönes Wortgeklingel. Jedoch: Die Kunst der wohlgesetzten Rede zu veredeln und zu verbreiten – welch‘ eine notwendige Anstrengung in einem Land wie Deutschland. Man muß nur eine durchschnittliche öffentliche Ansprache hören und weiß Bescheid.

Als jemand, der wahrlich gut sprechen kann, hört sich Jens – verzeihliche menschliche Schwäche – recht gerne selbst reden, er genießt eben seinen eigenen Vortrag. Auch den Wohlmeinenden kommt er dann manchmal etwas penetrant vor, wie ein Besserwisser und Oberlehrer. Damit muß und kann er leben.

Es ging und geht Jens nie um die bloße Form der Rede. sondern um Inhalte. Er ist wohl das, was man einen Radikaldemokraten nennt. Viele beklagen oder bejubeln den „Tod der Aufklärung“. Doch Jens besteht darauf, daß die moralischen und freiheitlichen Ansprüche der Aufklärung endlich eingelöst werden. Oft hat er sich mit unbequemen Anmerkungen zu Politik und Kultur in der Bundesrepublik zu Wort gemeldet; manchen zum Verdruß, anderen zur Labsal.

„Feldzüge eines Republikaners“ heißt eines seiner Bücher. Manchmal beläßt er es (ähnlich wie seinerzeit Heinrich Böll) nicht beim verbalen Widerstand, sondern zieht handelnd zu Felde: So war der überzeugte Pazifist 1984 bei der Sitzblockade vor dem US-Raketendepot in Mutlangen dabei. Und so verbarg er US-Soldaten, die nicht am Golfkrieg teilnehmen wollten, in seiner Wohnung. Eine Haltung, die selbst dann Respekt abnötigt, wenn man seine Meinung nicht teilt. Sie ist mit persönlichem Risiko verbunden.

Der hochdekorierte Jens (Lessing-Preis, Heine-Preis usw.) hat den Acker der Sprache allseits gepflügt: Er ist nicht nur Redner, sondern auch Schriftsteller, Literaturhistoriker, Rezensent und Übersetzer. Mit dem Weggefährten Hans Küng, dem kritischen Katholiken, arbeitet der Protestant Jens seit Jahren an einer zeitgemäßen Übertragung des Neuen Testaments.

Auch im gesetzteren Alter ist Walter Jens kein bißchen leise. So empörte er sich kürzlich über einen Beitrag der Zeitschrift „Sinn und Form“, herausgegeben von der immer noch selbständigen Ostberliner Akademie der Künste. Dort hatte man unkommentiert einige Passagen aus Tagebüchern von Ernst Jünger gedruckt. Schon beim bloßen Namen des oft als kriegslüstern gescholtenen Autors von „In Stahlgewittern“ muß Jens rot gesehen haben. Er las den Abdruck als „gefährliches Symptom“ einer neuen nationalkonservativen Strömung und einer „unheiligen Allianz“. Seine Befürchtung: Die deutschen Intellektuellen könnten sich wieder einmal dubiosen Autoritäten hingeben. Man darf das nicht einfach als Hirngespinst abtun, da doch selbst ein Mann wie der Dramatiker Botho Strauß den Weltgeist neuerdings wieder „rechts“ wehen sieht.

Als Präsident der Berliner West-Akademie der Künste ist Walter Jens auch in die Wirren der deutschen Vereinigung geraten. In der Stasi-Debatte empfahl er, auch nach den Teil-Bekenntnissen von Christa Wolf und Heiner Müller, „Behutsamkeit, Nachsicht und Erbarmen“. Er meinte damit kein Verleugnen, sondern schlichte Menschlichkeit.

                                                                                                            Bernd Berke

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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