Von Bernd Berke
Dortmund. Schwankende Gestalt: „Der Seiltänzer“ von Paul Klee ziert das Dortmunder Programmheft zu Goethes „Clavigo“. Auch dieser Karrierist am Königshofe von Madrid ist artistisch biegsam und neigt sich – je nach Gelegenheit – wechselhaft zu allen Seiten, um ja nicht abzustürzen.
Ein Mädchen wie Marie könnte auf seinem Weg dort oben nur hinderlich sein. Also verläßt er sie. Doch er hat ein offenes Ohr für Überredungskünste: Also kehrt er zu ihr zurück, wenn ihr Bruder Beaumarchais darauf drängt – und verrät sie dann erneut, weil sein Freund Carlos es so will. Wo Clavigo auch geht und steht, er ruft den Leuten zu: „Ich bin der Eurige“. Ha! Ist das nun eine Tragödie, oder ist es eine Farce?
Wohl eher eine Farce, scheint Regisseurin Amélie Niermeyer zu finden. Sogleich stürmen Clavigo (Michael Ehnert) und Carlos (Frank Voß) herein. Sie liebkosen ihr druckfrisches Zeitungs-Blättchen, das „alle Weiber bezaubem“ werde. Zwei schöne Hallodris haben wir da, fast bis aufs Haar ununterscheidbar. Yuppies bei Hofe, verantwortungslose Selbst-Genießer. Doch man wird sehen: Auch die anderen Menschlein sind nicht viel besser. Carlos, sonst oft nur Bösewicht und Einflüsterei, ist hier eher die zweite Seele in Clavigos Brust.
Seltsam leichtlebige Schwestern
Nun aber dreht sich die aufrecht stehende riesige Zylinderform (zweckdienliches Bühnenbild, abwechselnd eng und weit: Alexander Müller-Elmau) und gibt den Blick in ihr Gehäuse frei: Es ist die Sphäre der verlassenen Marie (Eleonore Bircher), ihrer Schwester Sophie (Katharina Abt) und ihres Schwagers Guilbert (Otmar Schrott). Auch hier spielt man seltsam leichtlebig vor sich hin, kratzt ein wenig auf der Geige, tanzt und kichert sogar. Etwas grotesk und uhrwerkartig ist das sicherlich, doch soll dies ein Haus des Leidens sein? Wenn hier von Liebesschmerz geredet wird, wirkt er wie an-gedichtet, wie bloßer Affekt, nervöses Gebaren. Marie muß denn auch von den Ihren zum vermeintlichen Glück geprügelt werden. Wenn sie später stirbt, hat das vielleicht damit zu tun – und weniger mit Liebesleid. Weder bei Clavigo noch bei Marie kann es mit der Liebe weit her sein. Sie gerinnt zu Ansprüchen und deren taktischer Abwehr.
Und dann erst Maries Bruder Beaumarchais (Kai Hufnagel): Wie der hereinsaust und seine Kreise zieht! Ein wildgewordener Möchtegern-Napoleon, wie frisch aus einem Irrenwitz entsprungen, schnarrt er diktatorisch seinen Rachedurst heraus. Weh denen, die sich von so einem „helfen“ lassen! Man fürchtet schon, nun beginne die große Goethe-Verulkung. Doch das ist nicht wahr: Es folgt ja die großartige, innige Überredungs-Szene, in der Carlos den Clavigo wieder „umdreht“, den er schon zu verlieren drohte. Da fallen die höfischen Perücken.
Zum Schluß rafft es alle dahin
Bei Goethe sterben nur Marie und Clavigo, in Dortmund rafft es im Schlußbild alle dahin. Nur Clavigo überlebt und ruft sämtlichen Toten zu: „Ich bin der Eurige!“ Triumph des Opportunisten über Leichenbergen? Doch so spielerisch sind sie gestorben, daß sie gewiß gleich wieder aufstehen und ihre Intrigen von vorn abschnurren lassen könnten.
Die Inszenierung, von der man nie recht weiß, ob sie den Wallungen ihrer Figuren nur ironisch mißtraut oder ob sie auch echten Gefühlen nachtrauert, überzeugt – aufs Ganze gesehen – durch ihre unverkrampft zupackende Art, ein homogenes Ensemble, prägnante Kostüme (Jasmin Andreae) und gleichermaßen dezente wie eingängige Musik-Überleitungen (Michael Nyman). Jammerschade, daß eine ersichtlich begabte Regisseurin wie Frau Niermeyer Dortmund schon wieder den Rücken kehrt und gen München zieht.
(nächste Vorstellungen: 6. und 19. März)