Banalität und Alptraum der Folter – Roberto Ciulli inszeniert Sartres „Tote ohne Begräbnis“

Von Bernd Berke

Mülheim. Es ist eine Zumutung und zum Davonlaufen, was uns Roberto Ciulli in Mülheim als Sartres „Tote ohne Begräbnis“ vorsetzen läßt. Doch können nicht Zumutungen auf dem Theater eine andere Qualität bekommen? Können sie nicht dazu zwingen, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, an die man andernfalls nicht im Traum geriete?

Ciulli läßt Sartres (kaum noch gespieltes) Stück über eine Gruppe von Résistance- Kämpfern, die sich in der blutrünstigen Gewalt französischer Nazi-Kollaborateure befinden, als schrecklichen „Folterabend“ vorführen. Der ohne Pause und also ohne Fluchtmöglichkeit gespielte Text ist rigoros gekürzt. Ciullis Fassung läßt wenig ahnen von Sartres Ansinnen, die existentielIe Entscheidungsfreiheit in einer Extremsituation zu zeigen – die Entscheidung zwischen Verlust der Würde durch Verrat und Verlust des Lebens durch Schweigen. Statt dessen starrt man sprachlos-entsetzt in ein Horrorkabinett.

Die vordere Bühnenhälfte (Spielstätte im Raffelbergpark) ist voll von brackigem Wasser. Ein Unterweltfluß, eine Art Acheron? Doch mythisch Anwandlungen steht das banale Inventar entgegegen: Der „Warteraum“ der Opfer, in dem sie der Folter entgegenzittern, erweist sich (zu erinnern ist an reale Stadien als Stätten der Gewalt) als Turnhalle mit Barren, Sprungbock und Sprossenwand, an der die Widerständskämpfer anfangs wie Gekreuzigte hängen. Überhaupt flimmert das Geschehen ständig zwischen alptraumhafter Bedeutsamkeit und abgründiger Banalität.

Hinten, abgegrenzt durch einen Vorhang, liegt das armselig-schäbige Abteil der Folterknechte: Rostiges Stahlbett, nackter Scheinwerfer, ein Radio; das ist alles.Umso absurder zelebrieren die Folterer ihre Bluttaten – mal geschminkt, mal schmierige Erotik signalisierend, mal kühl experimentierend, mal wie Turner sich zur Gewalt „ertüchtigend“. Und: Zu Folter und Mord ertönt immer Musik. Die Folter als bizarres Fest.

Doch auch ihre Opfer erscheinen keinesfalls als Helden. Sie sind mit ihren Peinigern im selben hermetischen Wahnsystem gefangen. Ihre Wunden tragen durchaus auch groteske Züge, was – falls eine Steigerung möglich wäre – alles noch schlimmer, noch sinnloser macht. Am Schluß bleibt nicht einmal (wie bei Sartre) „Erlösung“ durch den Tod, sondern Verewigung der Qual in einer endlos zerdehnten Zeit.

Die Aufführung entwirft starke, verstörende Bilder. Das Ensemble – voran Veronika Bayer – spielt, wenn der Begriff hier erlaubt ist, höchst „diszipliniert“. Dennoch bleibt die Frage, ob Ciulli nicht an dem Problem scheitert, scheitern muß, ein Phänomen wie die Folter auf der Bühne nur scheinhaft verdoppeln und verkünsteln zu können.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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