Trainer, der stressigste aller Jobs – ein neues Standardwerk von Dietrich Schulze-Marmeling

Wären wir in anderen Gefilden als in denen des Fußballs, müsste man wohl gravitätisch von einem Opus magnum sprechen, von einem wahrhaftigen Hauptwerk. Ob wir’s ’ne Nummer kleiner haben? Ja, klar: Dietrich Schulze-Marmelings Buch „Trainer! Die wichtigsten Männer im Fußball“ (mit Ausrufezeichen) dürfte für längere Zeit d a s deutschsprachige Standardwerk zum Thema bleiben.

Es handelt sich um nicht weniger als eine profunde Geschichte des nationalen und internationalen Trainerwesens von den Anfängen bis heute. Obwohl das Personenregister am Ende des Bandes zahllose Namen umfasst, erschöpft sich das Buch keineswegs im Namedropping. Im Gegenteil: Der Autor, der über ein umfangreiches Archiv verfügen muss, bearbeitet seinen Gegenstand ausführlich, gründlich, gewissenhaft und durchweg ernsthaft. Hin und wieder verzeichnet er zwar unterhaltsame Vorfälle, doch versagt er sich den flotten oder fruchtlos humorigen Zugriff, der ihm ohnehin nicht entspräche. Fußball ist ja auch eine furchtbar ernste Sache, wie wir spätestens seit dem unsterblichen, oft und gern zitierten Diktum des schottischen Liverpool-Erfolgstrainers Bill Shankly wissen: „Einige Leute halten Fußball für eine Sache auf Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!“ 

Der 1956 in Kamen geborene Schulze-Marmeling hat seit 1992 schon regalmeterweise Fußballbücher verfasst. Er zählt zweifellos zu den führenden deutschen Fachleuten. Zudem hat er selbst (unterklassige, aber offenkundig wertvolle) Erfahrungen als Trainer gesammelt. Er hebt mit einer längeren Vorbemerkung an, in der einige Grundzüge des Profi-Trainerjobs, der ihm zufolge stressigsten aller Tätigkeiten, dargestellt werden. Deutliche Kritik ist inbegriffen – an Managern, Funktionären und sonstigen Vereinsbossen, die bei Misserfolgen rasch den vergleichsweise unterbezahlten Trainer, aber nicht die immens teuren Spieler feuern, die es schließlich auf dem Platz vergeigt haben. Sei erst einmal angepfiffen, könne der Trainer nicht mehr allzu viel bewirken. Herbe Kritik übt Schulze-Marmeling auch an neu-gierigen Medien, die nach Trainerentlassungen geradezu jiepern, wenn sie sie nicht gleich selbst mit herbeiführen.

Der Autor Dietrich Schulze-Marmeling (Verlag Die Werkstatt)

Sodann geht es durch all die vielen Jahrzehnte seit der Entwicklung des Spiels im „Mutterland“ England. Alsbald schwärmten englische Trainer auf den Kontinent aus, um dort fußballerische „Entwicklungshilfe“ zu leisten, so wie dies (viel später, phasenweise wechselnd und mit anderen geographischen Zielrichtungen) Übungsleiter z. B. aus Ungarn, den Niederlanden oder neuerdings Deutschland (Klopp, Tuchel) getan haben. Ein Leitmotiv, das sich durch das Buch zieht, ist auch die allmähliche Evolution der Spielstile vom anfänglichem Gebolze hin zu späteren Raffinessen wie Zirkulation, Ballbesitzfußball, Pressing und Gegenpressing sowie zunehmend datengestütztem Laptop-Trainertum. Doch geht es ohne Empathie und Emotionen? Nein und nochmals nein.

Aber noch einmal zurück. Hand aufs Herz: Hat jemand den Namen Richard Girulaitis schon einmal gehört? Der darf nach Schulze-Marmelings Ansicht als Ahnherr aller späteren deutschen Fußballtrainer gelten. Näheres lese man im Buche nach.

Und so geht es weiter durch die Zeitläufte. Der Autor schildert jede Menge spannende Episoden und Epochenbrüche, spart selbstverständlich auch politische Verwicklungen und Abgründe nicht aus. So hat der einstige „Reichstrainer“ Otto Nerz es fertiggebracht, sich vom Sozialdemokraten zum Nazi zu entwickeln, der sich als Zuchtmeister mit Kasernenhofton gerierte und Spieler nicht als Individuen respektieren mochte. Ähnliche Typen (wie Hans „Bumbes“ Schmidt) waren damals leider bei Schalke am Werk.

Nicht zuletzt jüdische Shoa-Überlebende aus Ungarn – wie z. B. Ernö Erbstein – haben nach dem Zweiten Weltkrieg als Trainer Fußballgeschichte geschrieben, haben letztlich auch dafür gesorgt, dass Ungarns Nationalteam seinerzeit selbst das lange als unschlagbar geltende England überflügelte und damals das neue Maß aller Dinge war – bis zum Endspiel der WM 1954… Nach dem Ungarn-Aufstand und dessen Niederschlagung (1956) gingen auch viele Fußballer ins Exil. Selbst der legendäre brasilianische WM-Sieg von 1958 (u. a. mit Pelé und Garrincha) hatte danach ungarische Miturheber.

Über die gar spät erfolgte Gründung der Bundesliga (Spielbetrieb ab 1963) und die unselige Erfindung des Betonfußballs (Catenaccio) geht’s weiter in die 1970er, in denen auch der Fußball so manche Fessel abstreifen und Johan Cruyff seine Ideen vom offensiven „Totaalvoetbal“ entfalten konnte. England war inzwischen in die Zweitklassigkeit abgerutscht. Bevor sich die dortigen Vereine und die Nationalmannschaft wieder berappeln konnten, musste – wie wir anschaulich erfahren – erst einmal die vehemente „Saufkultur“ in den Kabinen ausgetrocknet werden.

Schließlich rücken wir an die Gegenwart heran – mit den Reformern Klinsmann und Löw, mit der Rivalität zwischen Mourinho und Guardiola…

Genug der angerissenen Einzelheiten. Man kann hier nur skizzieren, was Schulze-Marmeling sehr instruktiv ausbreitet. Bei dieser Lektüre lässt wirklich einiges lernen. Gar nix zu meckern? Doch. Ein kleines bisschen. Das Cover hätte man sich etwas geschmackvoller gewünscht. Und an dieser oder jener Stelle ließe sich gut und gerne ein wenig nachredigieren.

Was gäbe es noch zu sagen? Ach so, ja: Hier haben wir ein ziemlich ideales Weihnachtsgeschenk für Fußballanhänger mit gewissem Anspruch.

Dietrich Schulze-Marmeling: „Trainer! Die wichtigsten Männer im Fußball“. Verlag Die Werkstatt, Bielefeld. 384 Seiten, Paperback, mit zahlreichen Fotos. 29,90 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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