Die 40. Tage Alter Musik: Frühe Kult-Oper „Camilla“ und mehr beim Festival in Herne

Das Ensemble "Vox Werdensis" bei seinem Konzert in der Kreuzkirche in Herne. Foto: Thomas Kost/WDR

Das Ensemble „Vox Werdensis“ bei seinem Konzert in der Kreuzkirche in Herne. Foto: Thomas Kost/WDR

Vor 40 Jahren war das schon ein bisschen irre: Als der damalige Kulturdezernent der Stadt Herne, Joachim Hengelhaupt, 1976 die Idee umsetzte, Instrumente für Alte Musik auszustellen und einige kleine, feine Konzerte zu veranstalten, konnte er noch nicht auf eine vielfältige „Szene“ in diesem Sektor bauen. Und der Westdeutsche Rundfunk, der sich mit Herne zusammentat, leistete echte Pionierarbeit in einem Feld, das heute „Kult“ ist: Festivals, Ensembles, aber auch Musikwissenschaft und Musizierpraxis haben sich seither rasant weiterentwickelt.

Die Festival-Macher seit 1976. Von links: Klaus L Neumann (ehemaliger künstlerischer Leiter), Joachim Hengelhaupt (Kulturdezernent a.D. und Festivalgründer), Richard Lorber (künstlerischer Leiter). Foto: Thomas Kost/WDR

Die Festival-Macher seit 1976. Von links: Klaus L Neumann (ehemaliger künstlerischer Leiter), Joachim Hengelhaupt (Kulturdezernent a.D. und Festivalgründer), Richard Lorber (künstlerischer Leiter). Foto: Thomas Kost/WDR

Zur Erinnerung: Die ersten Harnoncourt-Aufnahmen bei Telefunken waren damals gerade mal fünf Jahre alt und Ensembles wie der Concentus Musicus oder Gustav Leonhardts Leonhardt-Consort agierten am Rand des Konzertbetriebs für eine kleine Gemeinde Begeisterter. Historische Aufführungspraxis war für die meisten klassischen Musiker ein exotisches Hobby einiger Enthusiasten, eine Ausbildung an Hochschulen noch alles andere als üblich.

Aber immerhin hatte es in Nordrhein-Westfalen mit der Cappella Coloniensis das erste Orchester weltweit gegeben, das im Sinne der historischen Aufführungspraxis musizierte. Ihr Debüt am 18. September 1954 im Sendesaal des Funkhauses am Wallraffplatz in Köln erfuhr internationale Beachtung; einer ihrer Gründerväter, Eduard Gröninger, war Musikwissenschaftler beim damaligen NWDR.

Heute sieht das anders aus: Ensembles und Festivals sprossen aus dem sprichwörtlichen Boden, genährt von Wissbegier und Lust an neuen Klängen und vergessener Musik. Weit über Bach und Barock hinaus richtet sich der Blick zurück in älteste mittelalterliche Überlieferungen, aber auch auf die Musik anderer Zonen und Völker. Ein Konzert wie das der „Vox Werdensis“ unter Stefan Klöckner, der an der Folkwang Universität Essen das Institut für Gregorianik leitet, ist heute nichts Ungewöhnliches mehr.

Stefan Klöckner: Er rekonstruierte die liturgische Musik für den heiligen Ludgerus. Foto: Thomas Kost/WDR

Stefan Klöckner: Er rekonstruierte die liturgische Musik für den heiligen Ludgerus. Foto: Thomas Kost/WDR

Die männlich markanten, traumhaft intonationssicheren, auf Raum und Wort ausgerichteten Männerstimmen geleiteten in der Kreuzkirche in Herne durch einen idealtypischen liturgischen Tag zu Ehren des heiligen Liudger: hochmittelalterliche geistliche Musik aus der Abtei Werden, bei der ein Einfluss der heiligen Hildegard von Bingen nicht ausgeschlossen werden kann. Das Konzert zeigte, was auch in einem gut erforschten Bereich noch an Fortschritt möglich ist: Instrumente wie Glockenspiel, Drehleier, Traversflöte und die lautenähnliche Quinterne gehören – wie mittelalterliche Abbildungen nahelegen – zur Aufführung des einst rein vokal angenommenen Chorals.

Mit dem Abschlusshymnus („Confessor o dignissime“) stellte Klöckner das Experiment einer metrisch gebundenen Interpretation vor, wie er sie aus zeitgenössischen Quellen als wahrscheinlich erschlossen hat: Der zeitlos getragene Choralgesang gewinnt plötzlich rhythmischen Schwung und eine „weltliche“ Artikulation. So folgt die Musik vertieften Einblicken in die mittelalterliche Theologie, die so weltabgewandt und zeitenthoben, wie sie einst verklärt wurde, eben nicht gewesen ist.

Das Kulturzentrum in Herne - einer der Veranstaltungsorte der Tage Alter Musik. Foto: Werner Häußner

Das Kulturzentrum in Herne – einer der Veranstaltungsorte der Tage Alter Musik. Foto: Werner Häußner

„Kult“ war das Thema der 40. Tage Alter Musik in Herne, und der verantwortliche WDR-Redakteur Richard Lorber verengt den Begriff weder auf den gottesdienstlichen Kult noch auf den „Kult-Status“ der (alten) Musik. Sondern er entwickelt in einer inhaltlich ausgefeilten Dramaturgie das Spektrum dessen, was aus dem lateinischen „cultus“ im Lauf der Zeit erwachsen ist: Der Marienkult im gegenreformatorischen 17. Jahrhundert spielt da ebenso eine Rolle wie der an exotischer Entdeckung sich erfreuende Türken-„Kult“. Beides wurde in anspruchsvoll programmierten Konzerten musikalisch konkretisiert.

Auch früher gab es „Kult“-Musiker: Das Festival rückte Arcangelo Corelli und Niccolò Paganini als Beispiele ins Blickfeld. Dass dem Herrscherkult in der Zeit des französischen „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. und seinem komplexen Verhältnis zur geistlichen Musik der Zeit nicht „gehuldigt“ werden konnte, ist den aktuellen Ereignissen in Paris geschuldet: Die Musiker von Le Concert Spirituel und Hervé Niquet sahen sich außerstande, angesichts des furchtbaren Massakers Paris zu verlassen und nach Herne zu reisen.

Auch „Kult“-Stücke gab es vor 300 Jahren. Mit Giovanni Bononcinis Oper „Camilla“ erfüllte Herne eine der vornehmsten Aufgaben eines solchen Festivals, ins Licht der Gegenwart zu rücken, was uns auch nach so langer Zeit noch etwas zu bedeuten hat, das reiche Erbe europäischer Musik unseren Ohren zu erschließen. „Camilla“ stand am Beginn des Hypes der italienischen Oper im vergnügungssüchtigen London des beginnenden 18. Jahrhunderts. Die Oper wurde in London von 1706 bis 1728 in einer sagenhaften Aufführungsserie von 111 Abenden gespielt, wie Dramaturgin Sabine Radermacher in ihrem sorgfältig recherchierten Programmheftbeitrag vermerkt. Sie war ein Stück Nostalgie für eine ganze Generation.

Aber ihre Botschaft dürfte über das übliche Interesse an herrscherlichen Ränkespielen, entflammten Affekten und Leidenschaften und komischen Verwicklungen hinaus wahrgenommen worden sein. Das Libretto von Bononcinis begabtem Mitarbeiter Silvio Stampiglia mag in der listigen, entmachteten Königin Camilla aus dem sagenhaften vorrömischen Reich der Volsker die Engländer an die eigenen bedrängten Königinnen erinnert haben. Und die Botschaft, über die politischen Interessen und Zugehörigkeiten hinaus dem Frieden und der Liebe zu frönen, mag dem Zeitgeist entgegengekommen zu sein: Man hatte Hass und Blut nach zwei Generationen des politischen Hin und Hers wohl einfach satt.

Konzertante Aufführung der Oper "Camilla" bei den 40. Tagen Alter Musik in Herne 2015. Foto: Thomas Kost/WDR

Konzertante Aufführung der Oper „Camilla“ bei den 40. Tagen Alter Musik in Herne 2015. Foto: Thomas Kost/WDR

Heute kommt Bononcinis Camilla über das Gewirre der Barockopern-Kabale nicht mehr hinaus: Die Wechselbäder von Leid und Liebe, Triumph und Ohnmacht, Wahrheit und Verstellung sind zu krass konstruiert, um noch einen Rest Glaubwürdigkeit zu bewahren.

Was aber bleibt, haben schon die Zeitgenossen Bononcinis gerühmt: sein Talent für den pastoralen Stil, seine originellen Harmonien und seine graziösen und eleganten Melodien. Die konzertante Aufführung im Kulturzentrum Herne ließ vernehmlich werden: Bononcini komponiert feinsinnige Lyrik, versonnene Schwermut, in Schönheit leuchtenden Schmerz mit so viel Eleganz und emotionaler Wahrhaftigkeit, dass es verständlich wird, warum die Londoner auf ihn flogen.

Den Verdienst, die in der Gruft der Geschichte erblindeten Edelsteine neu aufzupolieren und in Glanz und Wonne auszustellen, gebührt in erster Linie dem Elbipolis Barockorchester aus Hamburg mit Jürgen Groß als Konzertmeister und Jörg Jacobi am Cembalo. In den gut zweieinhalb Stunden Musik war kein Nachlassen der Konzentration, der exakten Formulierung, der rhythmischen Präzision und metrischen Wachheit, der Phrasierungs-Eleganz und Intonationssicherheit festzustellen.

Aber mehr noch: Die transparente Abstimmung und Mischung der Instrumente und das detailbewusste Spiel der fünfzehn Musiker garantierte ausdrucksstarke Farben: eine edel ebenmäßige Blockflöte (Elisabeth Champollion), zwei durchsetzungsfähige, saubere Oboen (Luise Haugk, Markus Müller), ein mal trauerschweres, mal burleskes Fagott (Stephan von Hoff), ein filigran-virtuoses Cello (Hannah Freienstein) und die präsente, reizende Koloristik oder versonnene Soli beitragende Theorbe (Johannes Gontarski).

Ironie und humorvolle Distanz hätten gutgetan

Die gepflegte, ausgefeilte Wiedergabe von Bononcinis Musik hatte freilich auch einen Nachteil: Den Willen zum expressiven Risiko, zum theatralisch geschärften Ton, zur gestischen Prägnanz brachten die Hamburger nicht mit. Die Ausbrüche der Wut, der Hilflosigkeit, der Verzweiflung blieben distinguiert wie eine englische Nachmittags-Teegesellschaft. Und die drolligen Szenen zwischen Tullia und Linco – dem „niederen“ Paar – kamen so seriös daher wie das unfreiwillige parodistische Potenzial der „hohen“ Gestalten, das schon die Zeitgenossen erkannt hatten.

Ironie und humorvolle Distanz hätten dem Stück gutgetan, auch bei den Sängern, die sich von der Tendenz zu seelenvoller Larmoyanz nicht ganz fernhalten konnten. Wieder einmal zeigte sich, dass eine konzertante Wiedergabe einer Oper nur eine halbe Sache ist: Eine lebendige Bühnenaktion hätte vieles unterstreichen können, was an szenischem Potenzial in der Musik angelegt ist, aber nicht ausgespielt werden konnte.

Nur der gut gelagerte Bass von Simon Robinson mit seinem gestaltungsfähigen Kern und der rhetorisch talentierte Tenor Michael Connaire schärften an ihren Figuren, dem getäuschten Eroberer und verbohrten Vater Latinus und dem unter Verkleidung schmachtenden, aber auch aufbrausenden Liebhaber Turnus, lebendige Konturen. James Elliott als Prenesto demonstrierte exemplarisch, wie problematisch Gesangskultur des 18. Jahrhunderts auf die Gegenwart zu übertragen ist: Der angestrebte schlanke, feine, bewegliche Ton geht auf Kosten der unverzichtbaren Stütze der Stimme; die dünne, manchmal quetschige Formung des Klangs lässt nur wenig flexible Farben zu, und von technischer Brillanz bei den Verzierungen zu sprechen fällt schwer.

Ohne komödiantischen Anflug trugen Cécile Kempenaers und Konrad Jarnot das Dienerpaar Tullia und Linco vor: Der so großmäulige wie kleinlaute Diener verharrte mit dem versierten Liedsänger Jarnot im Bereich gepflegter Lyrik; die gewitzte junge Frau hat eine virtuose Arie mit Begleitung der Piccoloflöte im zweiten und zarte Kantilenen im dritten Akt, aber beide blieben lediglich fein ausgearbeitet, gewannen mit der schmalen Stimme keinen Esprit.

Auch den beiden Heroinen des Stücks, Julia Sophie Wagner (Camilla) und Marysol Schalit (Lavinia) mangelte es nicht an lyrischer Intensität und einem schlank-innerlichen Ton im Leid. Aber das entscheidende Quantum vokalen Exhibitionismus‘, das auffahrende Temperament oder die vitale Brillanz ließen beide mit ihrem zaghaften vokalen Zugriff auf ihre Figuren vermissen. Nun ja – wenigstens in der Aufnahme, die den Tonmeister vor einige Herausforderungen stellte, dürfte sich diese Keuschheit im Theatralischen vorteilhaft auswirken.

Im kommenden Jahr stehen die Tage der Alten Musik Herne unter dem Thema „Hommage“. Sie finden vom 11. bis 13. November 2016 statt.

Die Mitschnitte einzelner Konzerte des Festivals dieses Jahres sind an den Montagen 23. und 30.11., 14., 21. und 28.12. jeweils um 20.05 Uhr in WDR 3 Konzert zu hören, beginnend am 23. November mit dem Konzert der „Vox Werdensis“.

Das „Ludgerus-Offizium“, das im Konzert in Herne gesungen wurde, ist auch auf CD erhältlich. Die Aufbahme basiert auf einem der wichtigsten Bücher mit Gesängen zu Ehren des Heiligen Ludgerus (des „Heiligen des Ruhrgebiets“), das vor einiger Zeit in Kapstadt aufgetaucht ist. Der südafrikanische Musikwissenschaftler Morné Bezuidenhout hat die Gesänge übertragen und mit den wenigen in Deutschland überlieferten Handschriften verglichen. Hieraus hat Stefan Klöckner, Professor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste und Leiter des Ensembles Vox Werdensis, ein „Ludgerus-Offizium“ zusammengestellt. Die CD ist für 15 Euro beim Institut für Gregorianik der Folkwang Universität erhältlich. Kontakt: anke.westermann@folkwang-uni.de

 

 

 

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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