In zwölf Minuten von Mahler zu Mahler: In Duisburg und Essen erklangen die Sechste und die Zweite Symphonie

Die Duisburger Philharmoniker. Foto: Zoltan Verhoeven-Leskovar

Die Duisburger Philharmoniker. Foto: Zoltan Verhoeven-Leskovar

Zwei Mahler-Symphonien innerhalb weniger Tage in Duisburg und Essen: Wer den alten Ruhrpott nicht als Flickenteppich diverser städtischer Zentren, sondern die Rhein-Ruhr-Region als großen Kulturraum wahrnimmt, hat nicht nur in Sachen Mahler eine weltstädtische Auswahl. Man muss nur zum Beispiel die zwölf Minuten zwischen den Hauptbahnhöfen von Essen und Duisburg in Kauf nehmen.

Und dann bekommt man demnächst Mahlers Neunte in Dortmund, in der nächsten Spielzeit die Dritte in Gelsenkirchen und Essen, die Vierte in Wuppertal, die Siebte in Dortmund, die Neunte in Duisburg und die Sechste als Abschluss des Mahler-Zyklus mit Adam Fischer in Düsseldorf.

In Essen also die Sechste, ein Werk mit Regionalbezug, wurde es doch am 27. Mai 1906 hier im Herzen des Ruhrgebiets uraufgeführt. Viele Erklärungsmuster legen sich über die Symphonie: Die einen sehen sie als die „klassischste“ der Neun, andere lesen sie mit expliziten biographischen Bezügen oder entdecken in ihr eine prophetische Vorwegnahme eines Komponisten- oder sogar Epochenschicksals. Das hat einiges für sich: Mahler spürte sicherlich die untergründige Unruhe der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, war Zeuge heftig umstrittener Aufbrüche, strebte auch selbst mit jedem Satz jeder seiner Symphonien zu bisher unerreichten Ufern. Alexander von Zemlinsky soll die Sechste Mahlers „Eigentliche“ genannt haben; er selbst hielt sie laut Alma Mahler für sein „allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein“.

Biographie und Musik bei Mahler

Dass biographische Einflüsse – wie auch schon bei Tschaikowsky – eingeflossen sind, wird man schwerlich leugnen können. Die Frage ist, was dieselben für eine Mahler-Deutung heute bedeuten. Tragische Künstlerschicksale haben 108 Jahre nach Mahlers Tod nicht mehr die hypersensible Brisanz von einst; der Weltuntergang wird uns in Breitband und allen tontechnischen Raffinessen im Kino vorgespielt. Bleibt die Musik, das „Material“, das wir, je nach Standort, distanziert interessiert oder mit innerer Emphase anhören, auf uns wirken lassen.

Eine gewisse Materialfixierung mag der Grund sein, warum Mahler-Deutungen derzeit als gut empfunden werden, wenn sie technisch makellos daherkommen – wie jüngst die Achte unter Kirill Petrenko im Bregenzer Festspielhaus (und im Januar 2020 wohl auch die Sechste in Berlin). In Essen lässt sich Tomáš Netopil nur zum Teil auf eine solche – überspitzt gesagt – technizistische Lösung ein. Er lässt Wut und Depression, Melancholie und Aufschrei zu, ohne in jedem Moment auf plastische Balance, auf das „strukturelle“ Hören zu achten.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Da dürfen die vorzüglich disponierten Essener Philharmoniker auch einmal „loslassen“, die Magie des Moments auskosten, Klänge ausspielen und kombinieren. Mahler hat ihnen dazu genug Gelegenheit in seine Partitur geschrieben: Die böse kleine Trommel, die den Bläsern ihren Marschrhythmus aufdrückt, kaum dass die Wucht der Pauken einmal verstummt ist; die Klarinette, die sich mit den Kuhglocken aus der Ferne für wenige Takte für eine trügerische Idylle vereint; die Streicher mit ihrem verzerrten Schlager oder ihren gespenstischen Tremoli – schon der erste Satz fordert Klang- und Struktursinn heraus, und Netopil entscheidet sich, eher die Wirkung als die Ursache zu erforschen.

Das mag in diesem „Allegro energico“ hie und da zu bedauern sein, in den anderen Sätzen nicht. Denn zum Beispiel im letzten Satz erfasst der Essener Generalmusikdirektor, wie der vorher schon fast allgegenwärtige Marsch alles niederwalzt, was an thematischen Erinnerungen oder gar harmonischen Abfolgen erkennbar ist. Hier komponiert Mahler die brutale Überwältigung, den alles überflutenden Tumult, der sich in „irrer Geschäftigkeit“ (Peter Gülke) selbst verschlingt. Netopil hält diese Exuberanz allerdings so im Zaum, dass der Eindruck nicht verloren geht, der musikalische Formwille wehre sich gegen das allüberall lauernde Chaos, gegen den mit Ruten gepeitschten und mit den berühmten Hammerschlägen – in Essen partiturgerecht hölzern-trocken – übersteigerten Rhythmus. Tamtam und Harfe – welche Kombination „magischer“ Instrumente! – markieren einen wesentlichen Zusammenbruch, dem nur noch stockendes Aufflackern, finaler Donnerschlag und verzuckendes Pianissimo folgen. Verdienter Jubel.

Knöcherner Marsch und überlegtes Formbewusstsein

Ein Marsch, wenn auch weit weniger formbestimmend, findet sich auch im ursprünglich „Todtenfeier“ genannten ersten Satz der Zweiten Symphonie Mahlers, mit der sich die Duisburger Philharmoniker unter ihrem neuen GMD Axel Kober der fünf Wochen vorher erklungenen „Konkurrenz“ aus Düsseldorf stellen. In der Mercatorhalle klingt diese „Marcia“ noch fahler, knöcherner als in der Tonhalle; auch in den spannungsvollen leisen Momenten der Violinen, in dem elektrisierend unwirschen Eröffnungsakkord der tiefen Streicher, den kantabel geführten Holzbläsern und den Choralanklängen zeigen die Duisburger Philharmoniker fein abgestuften Klangsinn und ein Gespür für Spannungen und Stimmungswechsel.

Axel Kober, jetzt auch GMD der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Axel Kober, jetzt auch GMD der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Im zweiten Satz zelebriert Kober das Gemütlich-Naive des Dreiertakts, betont damit den Kontrast zu ersten, rückt ihn aber auch in die Nähe einer maliziösen Ironie. Man weiß nie, ob die properen Horn-Staccati und das leichtfüßige Stricheln der Geigen nicht eine Spur zu idyllisch gemeint sind. So fängt Kober in einem Satz, der gerne als unkompliziert dargestellt wird, die mehrdeutige Mahler-Welt ein, die sich dann im dritten Satz eindunkelt, wenn die drehenden Dreier fast dämonisch aufgeladen werden.

Kober macht – auch in den wilden Steigerungen, die noch folgen – den Formwillen klar, hebt die motivtragenden Schichten stets hervor. Bei allen fabelhaften Momenten von Horn und Klarinette, Celli, Kontrabässen und Fagott bis hin zu Harfe und Tuba: Im Lärm des ersten, in etwas zu unverbindlichen Klang des dritten und im eher zum Spröden neigenden Blechbläserklang des vierten Satzes kommen die Duisburger an ihre Grenzen; auch die Intonation scheint in der Riege der Bläser nachzulassen, wenn nicht Verwerfungen der Akustik das Ohr täuschten.

Für die vokalen Anteile der Symphonie stehen der Philharmonische Chor Duisburg und der LandesJugendChor NRW ein: ansatzrein, ausgeglichen, mit schimmernd gehaltenen Klängen, saftigen Steigerungen und einem wundervoll plastisch-mystischem „Was erstanden ist, das muss vergehen“. Hoheitsvoll lässt Ingeborg Danz im „Urlicht“ die Stimme strömen und flutet die Töne mit purer Schönheit; Anke Krabbe kündet Mahlers Glaubensbotschaft mit leuchtend präsentem Sopran. Entschweben zum Licht: Bei solcher Schönheit wird diese Vision in Tönen erfahrbar.

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Das nächste Konzert der Duisburger Philharmoniker bringt am 5. und 6. Juni in der Mercatorhalle ein Konzert für Streichquartett und Orchester des in Zürich geborenen und in New York lebenden Daniel Schnyder, György Ligetis Concert Românesc und Sergej Prokofjews Siebte Sinfonie. Karten: (0203) 283 62 100, Info: www.duisburger-philharmoniker.de

Bei den Essener Philharmonikern heißt es am 20. und 21. Juni „Vive La France“ mit Werken von Camille Saint-Saëns, Arthur Honegger und Maurice Ravel. Solist im Ersten Cellokonzert a-Moll op. 33 von Saint-Saëns ist Gautier Capuçon. Karten: (0201) 81 22 200, Info: https://www.theater-essen.de/philharmonie/spielplan/vive-la-france-77124/2570/

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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