„Die Welt ist doch eine Scheibe“ – Oder werden die Bücher bald aus der Steckdose kommen?

Von Bernd Berke

Frankfurt. „Die Welt ist doch eine Scheibe“. Dieser Spruch führt nicht zurück ins Mittelalter, als die Kugelgestalt der Erde noch unbekannt war. Er soll in eine goldene Medienzukunft weisen. Denn mit dem Reklame-Satz ist die Datenscheibe CD-Rom gemeint, die mehr denn je die Diskussion auf der Buchmesse beherrscht.

Es scheint, als sei die Messe-Premiere der elektronischen Lesemedien im letzten Jahr nur Vorgeplänkel gewesen, als dämmere den Verlagen erst jetzt die Tragweite der neuen Technik. Und schon preschen Leute vor, die behaupten, die CD-Rom sei nur ein Behelf. In einigen Jahren werde das „Buch“ direkt aus der Steckdose kommen – aus prall gefüllten Wissens-Banken via „Daten-Highway“.

Was ist auf den Silberlingen wirklich drauf?

Zukunftsmusik. Wer jetzt schon ein CD-Rom-Laufwerk sein eigen nennt, wird noch nicht immer helle Freude an den Platten haben. Bevor man ihn nicht kauft und verwendet, kann man einem „Silberling“ nicht ansehen, was wirklich drauf ist. So sind auch die Gründe für die enormen Preisunterschiede (ca. 30 DM bis 200 DM pro Scheibe mit einer Speicherkapazität von bis zu 600 Megabyte) zunächst nicht ersichtlich.

Erst beim Gebrauch kommt der Aha-Effekt: Wenn Verlage bis zu 2 Mio. DM pro CD-Rom investiert haben (nur noch im internationalen Verbund sinnvoll), ist der Nutzeffekt ungleich größer als bei unausgereiften Produkten: Nicht überall, wo „interaktiv“ draufsteht, ist’s auch drin.

Eins steht fest, man kann es beim Ausprobieren der Geräte an sich selbst und an anderen wahrnehmen – nicht die leicht verschleierten oder gar verklärten Blicke der Leser selbst von trivialeren Druckwerken, sondern fiebrig irrende Pupillen. Denn die elektronische Art des „Lesens“ züchtet Ungeduld. Allein die Apparatur diktiert das Tempo – und das ist bei komplizierten Anwendungen oft noch schleppend.

Vom Lexikon bis zur „Pussy-Parade“

Unterdessen herrscht in Messehalle 1 ein etwas anderes Getriebe als zwischen den Buchständen. Auf Anbieterseite überwiegen smarte Business-Typen. Interessenten sind vor allem Kids und Jugendliche, die ganz unbefangen die neuen Medien ausprobieren. In Frankfurt werden aber inzwischen auch die Vorteile der Druckmedien wieder zaghaft erwähnt – erster Katzenjammer nach der CD-Euphorie?

Jedenfalls schält sich die Erkenntnis heraus, daß man nicht einfach Gedrucktes auf Platte übertragen dürfe, sondern eigenständige Inhalte entwickeln müsse. Dazu hat sich die Verlagsgruppe Brockhaus/Meyer/Duden/Langenscheidt, wie in Frankfurt verkündet wurde, mit dem Software-Konzern Microsoft verbündet. Es ballt sich was zusammen. Und die Zukunftsschmiede mögen weder für die Buchpreisbindung garantieren noch für exklusiven Vertrieb über den Buchhandel. Die Branche steht vor einem Verdrängungswettbewerb.

Während Brockhaus und einige andere wirklich frappierende Lexikonprojekte hervorgebracht haben, ist das anderwärts mit Inhalten so eine Sache. Vieles tötet eher die Phantasie oder gehört in die Spielhalle. Und schon sieht man auch CD-Programme der schäbigen Art, z. B. eine Sammlung von computeranimierten Szenarien aus den Weltkriegen. Auch Beate Uhse hat die Hände nicht oder genauer: ganz entschieden in den Schoß gelegt. Ihre Sex-Fabrik ist mit einer Reihe von Scheiben vertreten, u. a. mit einer „Pussy-Parade“. Wenn das Gutenberg wüßte.

________________________________________________

Kommentar

Elektronik auf Frankfurter Messe auf dem Vormarsch

Das Buch im Computer

Etwa fünf bis 18 Prozent des Geschäfts mit dem Lesen, so gestern die Veranstalter der Frankfurter Buchmesse, könnten zur Jahrtausendwende mit elektronischer Ware abgewickelt werden. Die Spannbreite dieser Schätzung ist enorm. Schon deshalb läßt sie auf große Unsicherheit schließen. So richtig scheint man immer noch nicht zu wissen, auf was man sich da im Buchhandel eingelassen hat.

Doch die Geister, die man rief – man wird sie gewiß nicht mehr los. Der Buchmarkt ist ohne die Daten-Scheiben mit ihrem immensen Fassungsvermögen nicht mehr denkbar. Sie erobern auch jetzt schon auf der Messe immer mehr Raum und Aufmerksamkeit. Also muß man – wohl oder übel – mitmischen, will man den wirtschaftlichen Anschluß nicht verlieren.

Eher wie Beschwörung hört es sich an, wenn man darauf pocht, die „Inhalte“ würden gerade jetzt immer wichtiger. Buchverleger, so verkünden die Verbands-Funktionäre mit stolzgeschwellter Brust, hielten schließlich die Rechte an fast allem, was auf CD-Rom und anderen Datenträgern publiziert wird. Die stille und manchmal auch laut als Gewißheit verkaufte Hoffnung: Die Verleger würden diese „immer wichtigeren“ Inhalte schon nicht verkommen lassen.

Schon das kann man teilweise bezweifeln. Nicht jeder Verlag wird von edlen kulturellen Motiven geleitet. Zudem dürften sich schon bald große Elektronik- und Unterhaltungskonzerne lukrativer Datenrechte bemächtigen. Und denen ist es piepegal, was konsumiert wird. Hauptsache, es wird kräftig gekauft.

Bernd Berke, z. Zt. Frankfurt

(Kommentar erschienen 5. Oktober 1994)

 

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 3 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Buchmarkt & Lesen, Gesellschaft, Literatur, Medien, Netzwelten, Technik, Warenwelt & Werbung abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.