Die Psyche ist nur noch eine ferne Erinnerung – Fritz Marquardt inszeniert Ibsens „Klein Eyolf“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Ehrgeiz, es mit kaum noch spielbaren Stücken dennoch zu versuchen, regiert derzeit den Bochumer Spielplan. Nachdem Frank Patrick Steckel „Die Nibelungen“ von Hebbel auf die Bühne gestemmt hat, inszenierte nun DDR-Regisseur Fritz Marquardt „Klein Eyolf“, ein von mancherlei Symbolismen durchwabertes Spätwerk Henrik Ibsens.

„Klein Eyolf“ ist ein neunjähriger Junge, gehbehindert durch die Verantwortungslosigkeit der Eltern, Alfred und Rita Allmers (Eyolf fiel vom Wickeltisch, da sie es miteinander trieben). Als er nun im Fjord ertrinkt (die „Rattenjungfer“ soll ihn hineingelockt haben), brodelt das Thema „Verantwortung“ ehebedrohend hoch, hinzu kommt – in Gestalt von Alfreds (Halb)-Schwester Asta – inzestuöse Verlockung. Am Schluß läßt Ibsen sein Ehepaar gipfelwärts blicken und sich zur menschlichen Verantwortung bekennen. Bis dahin sind viele düstere Dialoge zu absolvieren.

Sich auf verquere Psycho-Symbolik naiv einzulassen, geht nicht mehr, Naturalismus auf voll möblierter Bühne noch weniger. Marquardt und sein Bühnenbildner Karl Kneidl verpacken den ersten Akt gleichsam in Plastik (halbhohe Plexiglasbande vorn, Folie hinten) und „frieren ihn ein“.

Alle Gesten sind wie abgestorben

Das gesamte Gesten-Repertoire (Ibsens Regieanweisungen) stirbt ab. Statt Händedruck, Umarmungen und Zuwendungen, die ja die wirklichen Beziehungen in diesem Stück auch nur kaschieren, herrscht Gefühlseiszeit. Wie fremdgesteuert rucken die Personen über die Bühne, und zwar allzu offensichtlich, sogleich einem verborgenen Gesetz größtmöglicher Blick-Abirrung gehorchend, sich aneinander vorbeidrückend wie Nicht-Vorhandene und-meist tonlos redend, mitunter grotesk ausbrechend – ohne Umschweife die kommunikative „Null-Lösung“ ansteuernd. Immer wieder ist davon die Rede, daß man seine Gefühle, den Partner, ja sich selbst mit niemandem teilen könne. Das erledigt sich hier quasi auf mathematischem Wege. „Null“ ist nicht teilbar.

Das Stück wirkt wie skelettiert, zudem – als sei die allgemeine Katastrophe schon geschehen – auch bar jeder individuellen Psychologie, die nur wie ferne Erinnerung durchschimmert. Desto befremdlicher wirken altbackene Worte wie etwa „Lusthaus“.

„Und nichts, um das Leben zu füllen“

Zum zweiten Akt fällt der Vorhang wie eine Guillotine herab. Das glänzende Parkett, auf dem sich zuvor Rita als fühllose Luxusfrau rekelte, ist aufgebrochen: Erdschollen-Verwerfung nach dem Beben. „Jetzt sitze ich hier in Wohlstand und Herrlichkeit“, wähnte Alfred anfangs. Damit ist es jetzt ganz vorbei, fortan geht es nur noch darum: „Das Leben, ja! Und nichts, um das Leben zu füllen“. So ist hier am Ende Rita Entschluß, Kinder zu sich zu holen, Verantwortung zu übernehmen, nur die verzweifelte Absicht, die große Leere zu füllen. Kein Gipfel ist da in Sicht.

Jochen Tovote spielt den schwächlichen Allmers mit abstrusen Gefühlsaufwallungen, Hedi Kriegeskotte als „Rita“ ist gleichermaßen unterkühlt in Lust und Trauer, Hildegard Kuhlenberg als „Asta“ gibt ihrer Figur noch die meisten individuellen Züge, Ivo Dolder als Ingenieur und Straßenbauer „Borghejm“ sorgt mit seinem trockenen Lob des Zubetonierens für Lacher, Ulrike Schloemer als „Rattenjungfer“ ist hexenhaft grell, wie aus einem Kinderstück herbeigesprungen.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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