Scham, Schuld und verschüttete Gefühle: Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ am Schauspiel Köln

zene aus "Rückkehr nach Reims". Foto: Thomas Aurin/Schauspiel Köln

Szene aus „Rückkehr nach Reims“. Foto: Thomas Aurin/Schauspiel Köln

Eine soziologische Schrift als Theaterstück? Hat das genug dramatisches Potential, hört man sich da nicht lieber eine Vorlesung an?

Tatsächlich ist das Schauspiel Köln nach der Berliner Schaubühne und dem Theater Lübeck nun das dritte Haus, das Didier Eribons autobiographischen Roman „Rückkehr nach Reims“ auf die Bühne bringt.

Nicht zuletzt hat das bestimmt mit der Brisanz des Themas zu tun. Es geht dabei um die Frage, wie es möglich sein konnte, dass eine vormals linke, sozialdemokratische oder kommunistische Arbeiterschaft in den letzten Jahren dazu übergegangen ist, verstärkt rechte Parteien zu wählen. Der französische Philosoph, Soziologe und Schriftsteller Didier Eribon analysiert dabei am Beispiel seiner eigenen Familie diese Entwicklung in Frankreich in Bezug auf den Front National; in Deutschland drängt sich der Vergleich mit dem Erstarken der AfD natürlich auf.

Konfliktbeladene Familiensituation

Das Ergebnis ist auf jeden Fall gelungen: Pralles Welttheater kann man die Inszenierung von Thomas Jonigk, der auch die Bühnenfassung besorgt hat, zwar nicht nennen; dennoch gelingt ihm ein differenziertes Kammerspiel, dessen dramatisch-düstere Momente sich aus der konfliktbeladenen Familiensituation speisen. Denn die Hauptfigur Didier (Jörg Ratjen), die nach langer Funkstille mit seiner Familie wieder nach Reims zurückkehrt, hat in seiner Kindheit und Jugend doppelt gelitten: Als Homosexueller war er in seinem Milieu übelsten Diskriminierungen ausgesetzt und nutze die erste Gelegenheit, in die Großstadt Paris zu fliehen. Außerdem litt er als erster Gymnasiast in der Familie, als Intellektueller, unter den Beschränkungen des Arbeiter-Milieus, ja er schämte sich für seine proletarische Herkunft.

Dies beschreibt Eribon schon in der Romanvorlage, die 2016 auf Deutsch erschien, dezidiert: Zwar hatte er sich jahrelang auch wissenschaftlich mit seinem Coming Out, dem Finden seiner homosexuellen Identität auseinandergesetzt, doch die soziale Scham, seine niedere Herkunft verschwieg oder verleugnete er sogar. Nun also unternimmt er jenseits der 50 eine Zeitreise in die Verhältnisse seiner Kindheit und Jugend, die hier in Rückblenden erzählt wird.

Coming Out auf freizügig urbane Art

Eine nüchterne Werkshalle ist auf die Bühne des Depots in Köln-Mühlheim gebaut, das Personal besteht aus Didier, seiner Mutter (Sabine Orléans), die die herzliche Dicke sehr überzeugend verkörpert, seinem Vater (Nicki von Tempelhoff), der als demenzkranker Mann den ruppigen Arbeiter nur noch erahnen lässt. Außerdem hat Thomas Jonigk zwei junge Männer dazu erfunden, die für das Coming Out stehen (Justus Maier, Nicolas Lehni), freizügig und urban agieren und eine Atmosphäre des 68er Aufbruchs heraufbeschwören.

Monotonie der rassistischen Vorurteile

Die Monotonie der Fabrikarbeit illustrieren einige exemplarische Szenen mit Technoklängen und wiederkehrenden Handgriffen, die manchmal etwas langatmig geraten. Am stärksten ist die Inszenierung, wenn sie privat wird, wenn es um Scham, Schuld und verschüttete Gefühle aus der Kindheit geht. Und wenn Didier die theoretischen Hintergründe der Arbeiterbewegung erläutert: Jörg Ratjen nimmt man den bebrillten, zwischen Arroganz, Mitleid und qualvollen Gefühlen schwankenden Intellektuellen besonders gut ab. Eine gewisse Steifheit und Gehemmtheit ist nahezu in seinen Körper eingeschrieben, den die Scham nie vollständig verlässt.

Ein starkes Bild findet die Inszenierung gegen Ende, als die Arbeiter und Familienmitglieder um den mit der Trikolore gedeckten Tisch sitzen und mit monoton-verlangsamter Stimme rassistische Vorurteile produzieren. Der Verfremdungseffekt mildert die Wucht der Worte ab. Die soziale Analyse ist schlüssig. Eine Lösung wird allerdings nicht präsentiert und das ist vielleicht auch nicht Eribons Absicht. Dennoch: Besteht überhaupt die Chance, die verlorenen Arbeitermilieus wieder zurückzuholen zur Linken? Ihnen eine neue kulturelle Identität zu verleihen? Diese Aufgabe beschäftigt viele Sozialisten bzw. Sozialdemokraten in Europa zurzeit und das macht „Rückkehr nach Reims“ hochaktuell.

Weitere Informationen: https://www.schauspiel.koeln/spielplan/monatsuebersicht/rueckkehr-nach-reims/

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