Beckett, Bienen, inszenierte Archive – Martin Pages Künstlernovelle „Bienenzucht nach Samuel Beckett“

Jener Moran aus Becketts Roman „Molloy“, der den Auftrag hat, den Titelhelden ausfindig zu machen, betrachtet fasziniert den Flug der Bienen und ist „bestürzt über das verwickelte Gebilde dieses mannigfaltigen Tanzes.“ Im Verkehr der Insekten, die „keineswegs wie Menschen tanzen, um sich zu vergnügen, sondern auf andere Art“, entdeckt er „ein System von Zeichen“; er ordnet die „vielen verschiedenen Figuren und Rhythmen“ nach Klassen und interpretiert die Klangfarben ihres Gesummes, in welchem er „drei oder vier Höhenlagen“ ausmacht. „Das ist etwas, was ich mein Leben lang studieren kann, ohne es jemals zu ergründen.“

Literaturwissenschaftler mögen das Bienen-Motiv – außer in dem Roman „Molloy“ – auch an einigen weiteren Stellen in Samuel Becketts Werk entdeckt haben. Einer breiten Öffentlichkeit ist der Nobelpreisträger für Literatur (1969) jedoch nicht als Bienenzüchter bekannt. Auch in der soeben erschienenen Künstlernovelle „Bienenzucht nach Samuel Beckett“ von Martin Page bilden der weiße Overall und die Imkermaske nur eine von mehreren Kostümierungen, in denen der Schriftsteller auftritt. Bei der ersten Begegnung steht dem Ich-Erzähler folgender Beckett gegenüber: „Er hatte lange Haare und einen Bart. Er trug ein geblümtes Seidenhemd, eine schwarze Baumwollhose, Hausschuhe mit Schottenkaros und eine Schiffermütze“ – eindeutig nicht der Beckett, den wir von den Umschlagfotos unserer Suhrkamp-Taschenbücher kennen. Wir ahnen, dass der fiktionale Anteil in dem Tagebuch des Doktoranden, der kurzzeitig als Mitarbeiter des berühmten Samuel Beckett sein Geld verdient, beträchtlich sein muss.

Um Fiktion, genauer gesagt, um die Inszenierung des Lebens und des Nachlebens geht es auch bei dem, was Beckett und sein Helfer gemeinsam unternehmen. Forschungsinstitute an Universitäten in England, Irland und den USA sammeln Becketts Nachlass bereits zu dessen Lebzeiten. Beckett und sein neuer Mitarbeiter versorgen sie mit Informationen und Fehlinformationen. Ausgerechnet einen angehenden Anthropologen, der angibt, von Beckett neben „Warten auf Godot“ nur „Molloy“ gelesen zu haben, setzt Martin Page als Ich-Erzähler ein – ist es doch gerade Molloy in Becketts Roman, der rückblickend auf die Zeit seiner wissenschaftlichen Studien sagt, er habe sich „kurze Zeit mit der Anthropologie zu Tode gelangweilt.“

Langweilig wird es jedoch weder dem zwischen ausgelassenen Späßen und Resignation oszillierenden Beckett, noch seinem jungen Helfer, noch dem Leser von Martin Pages Novelle – woran auch der deutsche Übersetzer Gernot Krämer entscheidenden Anteil hat, dem es stets gelingt, die Leichtigkeit des Originals zu wahren, ohne bei seiner Wortwahl in Banalität abzugleiten, wozu das Erzählte manchmal verleiten könnte. Beispiel: Beckett beim Bowling. „Beckett warf seine Kugel mit Bestimmtheit. Seine Bewegungen waren geschmeidig, sein Fuß hielt genau an der Linie. Er war geschickt. Man sah, dass es ihm Spaß machte, die Kegel umzuwerfen.“

Etwas von der solipsistischen Behaglichkeit, die uns bei der Beckett-Lektüre berühren mag, überträgt sich auch durch Martin Pages Novelle. Beckett und sein Helfer mischen in die Pakete an die Forschungsinstitute einen Dildo aus dem Sexshop, falsche Schnurrbärte, nie benutzte Fahrkarten zu unsinnigen Reisezielen, und sie räsonieren dabei über Fetische oder die Verlässlichkeit wissenschaftlicher Forschung.

Das Umschlagen von Heiterkeit in Melancholie wird auch am Beispiel einer Theateraufführung von „Warten auf Godot“ im Gefängnis des schwedischen Städtchens Kumla im Jahr 1984 (der Gegenwart von Martin Pages Novelle) deutlich.

„Also? Wir gehen?“ – „Gehen wir!“ Auf der Bühne bewegen sich Vladimir und Estragon nach ihren berühmten Schlussworten nicht von der Stelle. Vier der fünf Gefängnisinsassen in Kumla jedoch, die nach dem großen Erfolg mit Becketts Stück auf Tournee gehen durften, fühlten sich ermuntert, nicht auf Godot zu warten, sondern zwischen einer Pressekonferenz und der Aufführung in Göteborg tatsächlich das Weite zu suchen. Als Beckett über den Regisseur Jan Jönson davon erfuhr, soll er in lautes Lachen ausgebrochen sein. So auch in Martin Pages Novelle, um allerdings gleich darauf die Chancenlosigkeit der Entflohenen zu beklagen. Ihr Ausbruchversuch werde alles noch schlimmer machen.

Während seiner beschwerlichen und unergiebigen Suche nach dem rätselhaften Molloy tröstet sich Becketts Romanfigur Moran mit Gedanken an die sonnenbeschienenen Bienenkörbe in seinem Garten. Jedoch scheitert er am Ende nicht allein in seinem Auftrag, Molloy aufzuspüren – bei seiner Rückkehr findet er auch im Bienenstock nur noch „ein Staubhäufchen von Flügeln und Ringen“ vor: „Man hatte sie den ganzen Winter hindurch draußen stehengelassen, ihnen den Honig genommen und ihnen keinen Zucker gegeben.“

Das ist nicht der Beckett, der Hawaiihemden, Kimonos, Cowboystiefel, exotische Hüte und Perlenkolliers trägt. Das ist der Beckett, der sich mit dem ersten Satz seines ersten Romans, „Murphy“, 1938 in die literarische Welt einschrieb. The sun shone, having no alternative, on the nothing new.

Für seine Studien über den Schwänzeltanz der Bienen als Sprachelement erhielt im tatsächlichen Leben der Verhaltensforscher Karl von Frisch 1973 den Nobelpreis für Physiologie / Medizin.

Martin Page: Bienenzucht nach Samuel Beckett. Aus dem Französischen übersetzt von Gernot Krämer. merz & solitude, Reihe Literatur. Stuttgart, Oktober 2011. Kartoniert, 80 Seiten, 15 Euro

Martin Page schrieb die Novelle 2009/2010 während eines Stipendienaufenthalts in der Akademie Schloss Solitude bei Stuttgart.

Erschienen ist der schöne Band im Oktober 2011 im Verlag merz & solitude, einer Kooperation der Akademie Schloss Solitude mit der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung Stuttgart.

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Über Wolfgang Cziesla

lebt als Schriftsteller in Essen.
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