Ortsbegehungen in Mahlers Welt

Nicht nur im laufenden Mahler-Gedenkjahr, auch lange noch darüber hinaus, werde ich sehr gerne zu dem schönen, geschmackvoll edierten Lebensbuch greifen, das der Residenz Verlag unter dem Titel „Mahlers Welt / Die Orte seines Lebens“ unlängst hat erscheinen lassen. Alle, die sich für Mahlers große Symphonik interessieren, sich für sie zu interessieren beginnen, sie vielleicht sogar schon lieben, werden sich mit diesem stattlichen Band auf Dauer anfreunden können.

Man könnte dieses Buch, wenn man es in einem durch liest, im fortwährenden Ausgang von den akribisch aufgeführten und detailreich kommentierten, recht zahlreichen Wohn- und Aufenthaltsorten und innerstädtischen Wohnadressen Mahlers her als eine besondere Art Mahler-Biographie lesen, oder aber es chronologisch und vom sehr hilfreichen Register her recht vorteilhaft als Nachschlagewerk benutzen. Zudem: Wer im letzten Jahr im Wiener Palais Lobkowitz die Ausstellung „Gustav Mahler und Wien“ gesehen hat oder eine der bedeutenderen Biographien zu Gustav Mahler (z. B. die von Jens Malte Fischer) bereits kennt, findet in diesem Buch eine gute Ergänzung.

Aber auch jener, der ohne allzu große Vorkenntnisse ist, und, ohne dass er den Zugang zu den Mahlerschen Kompositionen bereits gefunden hätte, unversehens auf dieses Buch stößt, könnte bei der fortlaufenden Erkundung und der fortlaufenden, durch etwa 600 Photographien gestützten Besichtigung der Orte von Mahlers Lebens einen zumindest sekundären Zugang zu Mahlers Schaffen gewinnen.

Ohnehin kann einem der Gedanke kommen, ob nicht auch so schon jedes Menschenleben auf seine Weise interessant ist und gebührendes Interesse verdiente; und wie es wäre, wenn man nicht nur das Leben der Berühmten, sondern auch das der Obskuren Revue passieren ließe; ja sogar, wie es wäre, wenn man das Leben Nahestehender oder auch das eigene Leben in der Chronologie der jeweiligen Wohn- und Aufenthaltsfolge in ihrem Leben einmal etwas genauer unter die Lupe nähme. Gewiss: die Vita der bereits Berühmten wird immer – auch buchmarktsmäßig gedacht – von größerem Interesse sein. Aber seit welchem Jahrhundert (wenn nicht dem Zeitalter der Renaissance in Italien) gibt es überhaupt ein Interesse an Künstler…-Viten? Und liegt diesem Interesse am Biographischen bei Künstler…n nicht fast immer die affektiv besetzte Beachtung der von den Künstler…n geschaffenen Kunstwerke ursächlich voraus?

Und war es nicht auch bei Gustav Mahler ähnlich? Wie schändlich lange hat es doch posthum gedauert, bis er in der Öffentlichkeit die ihm und seinem schöpferischen Werk auch nur einigermaßen angemessene Würdigung endlich und erst nach erfolgter Schleusenöffnung geradezu boomartig gefunden hat! Anlässlich des vorliegenden, über 400 Seiten starken Bandes „Mahlers Welt“ (ein Titel, der einen an den des größten Bucherfolgs von Jostein Gaarder erinnert), male ich mir aus, wie ein ähnlich zugeschnittener Band mit Blick auf andere Künstler aussähe, die ähnlich häufig wie Mahler von Ort zu Ort, von Adresse zu Adresse gezogen sind. Mir kommen da auf Anhieb Kleist, Grillparzer, Dostojewskij, auch Kafka, in den Sinn, um von den bedeutenden exilierten Künstlern mal ganz zu schweigen.

Wer also, sagen wir im Ruhrgebiet, z. B. wissen will, was Mahler mit dem Ruhrgebiet zu tun gehabt hat, wird im Register nach Ruhrgebietsstädten Ausschau halten und dabei auf die Seitenhinweise zur Stadt Essen stoßen. Auf Seite 261 erfahren wir, dass Mahler im Januar 1907 in Berlin unter anderem „den Gründer des Essener Folkwang-Museums Karl Ernst Osthaus“ getroffen hat, und auf den Seiten 303f. wird uns ausführlich mitgeteilt, was es mit Mahlers Mai-Aufenthalt 1906 in Essenfür eine Bewandtnis hatte. Auf S. 304 z. B. ist u. a. zu lesen: „Am 27. Mai um 17.30 Uhr fand im Städtischen Saalbau die zwiespältig aufgenommene Uraufführung von Mahlers VI. Symphonie unter der Leitung des Komponisten statt. Das aus 111 Musikern bestehende Orchster setzte sich aus den Städtischen Orchestern Essen und Utrecht zusammen. Mit der Eisenbahn wurde aus Paris von der Firma Musel Père et Fils, Paris IX.ar., 46 Rue de Douai, die in der Partitur vorgeschriebene Celesta herangeschafft, die laut erhaltenem Frachtbrief-Duplikat ein Gewicht von 101 kg hatte und 450 fl kostete.“

Je eine der etwa 600 in Einheitsgröße kleinen Abbildungen des Gesamtbandes findet sich auf den beiden Mahlers 1907er-Aufenthalt in Essen betreffenden Seiten 303 und 304. Auf Seite 304 ist der von 1904 bis 1943 existente zweite Essener Saalbau, ein „Jugendstil-Bau“, abgebildet, in dem Mahlers „Sechste“ 1907 uraufgeführt wurde.
Durchgängig sind die Abbildungen des Bandes kleiner als Postkarten, aber deutlich größer als die Briefmarkenabbildungen in älteren Michel-Katalogen. Dadurch bekommt zwar einerseits der jeweilige Text ein größeres Gewicht, andererseits verkümmert das Bild ein wenig zum bloßen Anhaltspunkt. Mir hat Letzteres allerdings nicht allzuviel ausgemacht. Mir hat die Einheitlichkeit in der jeweiligen Bildgröße des so unterschiedlichen Bildmaterials aus gesamtästhetischen Gründen durchaus gefallen. Zur Not hätte ich mir mit einer Lupe geholfen, wenn nicht ohnehin schon die Internet- und CD-Rome-Gewohnheit, kleine Bilder durch Zoomen jederzeit vergrößern zu können, bei mir inzwischen deutlich innerlich nachwirken und kleinste Bilder wie von selbst auch innerlich weiten würde.

Notorische Zweifler fragen jetzt vielleicht noch: 1.) Ist „Mahlers Welt“ denn nicht vordringlich in der von ihm komponierten Musik zu finden? 2.) Kann man denn erwarten, dass Mahlers „Welt“ sich aus chronologisch aneinandergefügten Stationen und Aufenthaltsorten als „Welt“ im wahrsten Sinne des Wortes zusammensetzen ließe?

Zur 2. Frage ist Folgendes zu sagen:
Erstens schränkt der Untertitel „Die Orte seines Lebens“ den Haupttitel „Mahlers Welt“ schon etwas ein.
Und zweitens wird in allen ortsbezogenen Beiträgen überzeugend und erfolgreich Wert darauf gelegt, sie in deutlichen Zusammenhang mit den jeweiligen Menschen und ihrer Geschichte zu bringen. Briefzeugnisse Gustav Mahlers und anderer werden da, wo ihr Ort ist, in die jeweiligen Artikel ebenso einbezogen wie passende, erhellende Dokumente und in unermüdlicher Akribie erzielte Rechercheergebnisse. Manchmal erfährt man sogar, wie nebenbei, wie eine bestimmte Straße einst zu ihrem Namen gekommen ist (vgl. beispielsweise auf S. 25 die Namensgeschichte des „Rennwegs“ in Wien).
Drittens ist auf diesem strikt faktenbezogenem Wege ein sehr informatives, reichhaltiges und anregendes Buch entstanden. Zur Freude derer, die noch mehr über Mahler erfahren wollen, und als verlockende Möglichkeit für jene, die über unverbiestert zuverlässige Biographie- und Kulturgeschichtsfragmente vielleicht doch noch einmal einen eigenen Zugang zu Mahlers Musikwelt zu finden trachten, auch wenn sie es vorher vielleicht gar nicht erhofft hatten.

Helmut Brenner / Reinhold Kubik: „Mahlers Welt. Die Orte seines Lebens“. Residenz Verlag. 408 Seiten, 39,90 Euro.

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