Kinder aus Nazi-Familien: Fluch der späten Geburt – Monolog-Folge „Schuldig geboren“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Draußen in der kalten Nacht geht, nervös kettenrauchend, ein Mann auf und ab. Es ist der Schauspieler Sven-Eric Bechtolf. Wir Theaterzuschauer sehen ihn durch die Fensterscheiben des Kammerspiel-Foyers, hören ihn via Mikrophon und Lautsprecher.

Hinter Bechtolf: (echte) Taxifahrer und ihre Fahrgäste, über den „verrückten“ Nachtwandler lachend. Noch weiter hinten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite: das fernsehabendliche Flimmerlicht in den Wohnzimmern. Drinnen, im Foyer, laufen auch zwei Monitore, das Alltäglichste vom Alltäglichen zeigend, vorüberhuschende Autos.

Eine gespenstische Verzahnung: Drinnen ist draußen, draußen drinnen – und gestern ist heute. Die Texte, die hier gesprochen werden, sind authentisch. Sie entstammen Peter Sichrovskys Buch „Schuldig geboren – Kinder aus Nazifamilien“.

Sichrovsky, Jahrgang 1947, dessen Eltern als jüdische Emigranten in England lebten, hat die – heute etwa zwischen 35 und 45 Jahre alten – Kinder von Schergen und überzeugten Nutznießern der NS-Zeit nach dem Verhältnis zu ihren Eltern befragt. Die schreckliche Gewöhnlichkeit der Aussagen wird noch gesteigert dadurch, daß diese Eltern in der Mitte, nicht an der Spitze der NS-Hierarchie standen. In den Monologen der „schuldig geborenen“ Nachkommen offenbart sich ein Weiterwirken des „deutschen Syndroms“ bis in die Gegenwart, ein dauerhafter Fluch der späten Geburt.

In den 14 Texten, die für jeden Bochumer Aufführungsabend anders zusammengestellt werden (zur Premiere waren es sechs) treten in greller Verschärfung die Symptome der notorischen „Unfähigkeit zu Trauern“ zutage. Je nach Charakter, äußern die Kinder sich verharmlosend, entschuldigend, stolz, sarkastisch, ratlos oder hilflos aufbegehrend über ihre Eltern.

Eine seriöse Inszenierung darf natürlich die selbstgerechten Passagen nicht bruchlos stehenlassen, sie muß heftig konterkarieren. Das Bochumer Regieteam (Andrea Breth, Thomas Kallin, Jochen Tovote) hat sich ersichtlich bemüht, dies zu leisten. Beständige Gefahr ist dabei das Abgleiten in bloße Karikatur. So verfällt Hildegard Kuhlenberg als „Brigitte“, die ihren Nazi-Vater noch immer bewundert, in eine Art „Else-Stratmann“-Diktion, um das Gesagte zu denunzieren. Und Armin Rohde als „Gerhard, 41, der Ratlose“, liefert zwar eine bravouröse Sozialstudie eines Fleischerladenbesitzers, der wegen der Taten seines Vaters keinen Laden in der lukrativen Fußgängerzone bekam, doch geht diese Darstellung eigentlich schon zu sehr in Richtung Kabinettstück.

Die traumatische Dimension des Erinnerungszwangs wird am deutlichsten bei Sven-Eric Bechtolf als „Rudolf, 36. Der Schuldige“, der sich durch die Taten seiner Eltern ein für allemal besudelt fühlt und mit angeekeltem Zynismus deren Nachkriegs-Wohlleben in Südamerika schildert. Nie aus einem schweren Alptraum auftauchend: Ingrid Oesterheld, die sich beflissen eine bessere Zukunft einredet, am Ende aber in einer Art Blackout verstummt. Das monströse „Damals“ hat sie eingeholt. Verunsichernd schließlich: Kim Collis als angepunkte 19jährige Täter-Enkelin „Stefanie“, die rotzig einen neuen Nationalstolz einfordert.

Das Bühnenbild (Peter N. Schultze) bewegt sich sehr im Rahmen des Erwartbaren: eine Schuttlandschaft mit aufgestecktem deutschen Fähnchen.

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 1 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.