Von der Last der Macht: „Boris Godunow“ im Dortmunder Opernhaus

Dimitry Ivashchenko als "Boris Godunow" in der gleichnamigen Oper von Modest Mussorgsky (Foto: M.Jauk/Stage Picture)

Diese Insignien der Macht übersteigen jedes menschliche Maß. Drei Männer braucht es, um das pelzgefütterte Prunkgewand des frisch gekrönten Zaren zu tragen. Tonnen scheint auch die mit Juwelen besetzte Mütze des Monomach zu wiegen.

Zwei Männer halten sie an Stangen in die Luft. Doch darunter ist kein Kopf. Auch der Mantel entpuppt sich als leere Hülle. Den zum Jubel abkommandierten Untertanen ist’s freilich egal. Für sie ändert sich ohnehin nur der Name der Knute, der sie sich beugen.

Solch klare und sinnfällige Bilder findet Katharina Thoma, Hausregisseurin an der Dortmunder Oper, die in ihrer Neufassung von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ die Schwere von Schuld und Macht erkundet. Dabei verzichtet sie fast gänzlich auf Prunk. Ein weißgrauer Betonbunker mit verschiebbarer Hinterwand verwandelt sich durch wenige Requisiten mal zur Straße, mal zum Palast, mal zu einem Birkenwäldchen (Bühne: Stefan Hageneier).

In diesem Rahmen, der oft überraschend licht wirkt, führt Katharina Thoma die individuelle Tragödie des Boris und das Drama des russischen Volkes zwingend zusammen. Mit feinem Gespür für Mussorgskys mitfühlende Musikpsychologie zeigt sie uns, dass der von Schuldgefühlen gequälte Boris nicht der schlechteste Regent ist, bevor ihn die Erinnerung an ein Verbrechen in den Wahnsinn treibt: hatte er doch aus Machtgier befohlen, den legitimen jungen Thronfolger zu ermorden. Im Stadium zunehmender geistiger Zerrüttung umhüllt sich Boris schutzsuchend mit seinem Mantel. Aber der erdrückt ihn schier, schrumpft ihn zum schaudernden Zwergen. Derweil schreit das hungernde Volk nach Brot. Es fleht zu einem Zaren, der sich nicht einmal selbst mehr helfen kann.

Es ist nicht das letzte Mal an diesem Abend, dass Katharina Thoma uns die ganze Bitterkeit von Russlands Misere schmecken lässt. Lob verdient ihre scharfe Ausleuchtung der Chorszenen. Das Volk ist bei ihr eine geschichtsbildende Kraft, zugleich aber dumpf, verroht, ungebildet und leicht zu manipulieren. Es kuscht vor der Gewalt, wird losgelassen aber zum reißenden Tier. Indes vereinen Opern- und Extrachor des Theaters sowie der Knabenchor der Chorakademie ihre Stimmkraft, ohne die Klangschönheit auf dem Altar des Fortissimo zu opfern (Choreinstudierung: Granville Walker und Jost Salm).

Als Gast erntet Dimitry Ivashechenko Beifallsstürme für die sensibel ausgeformte Titelpartie. Ivashchenko gibt „seinem“ Boris sonore Redlichkeit, aber auch grüblerische und gebrochene Töne. Der Tenor von Sergey Drobysheskiy bildet dazu den passenden Kontrast: Er singt den Hochstapler Dimitri, der aus der Mönchzelle mal eben flott auf den Zarenthron hüpfen möchte, mit einem zuweilen beinahe öligen Puccini-Schmelz. Die ernsthaft gestalteten Nebenrollen werten die Produktion weiter auf: Stellvertretend erwähnt seien Christian Sist als der Chronist Pimen und Hannes Brock als zwielichtiger Fürst Schuiskij, die wie der Rest des Ensembles in russischer Sprache singen (mit deutschen Übertiteln).

Der rauen Tonsprache des „Ur-Boris“ folgend, durchschreitet Dortmunds Philharmonisches Orchester unter der Leitung von Jac van Steen den großen Reichtum von Mussorgskys Partitur. Kinder- und Volksweisen, derbe Trinklieder, religiöse Choräle, Ausbrüche des Wahnsinns und der Verzweiflung klingen nicht immer ohne Wackler, aber mit zunehmender Vehemenz aus dem Graben.

Das Anarchiebild im Wald bei Kromy, das in Dortmund den Schluss bildet, könnte kaum deprimierender sein. Das marodierende Volk, kurz zuvor noch gegen Boris und dessen Blutschuld murrend, akklamiert unter Hurrageschrei den falschen Dimitri: einen Hochstapler und Mörder mit höchst zwielichtigen Absichten. Die Trostlosigkeit kulminiert im Klagelied des Gottesnarren: „Wehe dir, weine, du hungerndes Russland.“

(Informationen und Karten: www.theaterdo.de)

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